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Freitag, 10. April 2015

Istanbul – kosmopolitisch Die Hauptstadt der Welt?

Istanbul – kosmopolitisch

Die Hauptstadt der Welt?

Osmanische Kulisse, weltstädtisches Treiben: die alte Galata-Brücke in Istanbul in einer Aufnahme aus dem Jahr 1954.
Osmanische Kulisse, weltstädtisches Treiben: die alte Galata-Brücke in Istanbul in einer Aufnahme aus dem Jahr 1954. (Bild: Ara Guler / Magnum / Keystone)
Schon als die Stadt am Bosporus noch Konstantinopel hiess, war sie einBegegnungsort für Menschen aus unterschiedlichsten Kulturen. Auch heutenoch suchen zahlreiche Immigranten in Istanbul eine neue Zukunft.
Als Gustave Flaubert 1850 an den Bosporus kommt, wagt er die Hypothese, dass Konstantinopel eines Tages «die Hauptstadt der Welt» sein werde. «Jenes Gefühl des Zermalmtwerdens, das du bei deinem Einzug in Paris empfunden hast, durchdringt einen hier, wenn man so viele unbekannte Menschen streift, vom Perser und Inder bis zum Amerikaner und Engländer, so viele getrennte Individualitäten, deren furchtbare Summe die eigene totschlägt», schreibt der Franzose. Sein Landsmann Gérard de Nerval, der sich 1843 für drei Monate dort aufhält, fühlt sich im Stadtteil Pera, wo sich die ausländischen Bewohner konzentrieren, «wie in einer europäischen Stadt . . . in welcher der Türke selber zum Ausländer geworden ist». Herman Melville bleibt im Dezember 1856 sechs Tage lang in der Stadt, die ihm wie ein grosses Labyrinth erscheint, das in der barbarischen Verwirrung des Basars gipfelt, wobei die Aushänge in Türkisch, Französisch, Griechisch und Armenisch sein Gefühl der Verlorenheit nur noch unterstrichen zu haben scheinen. «Du hast das Gefühl, unter den Nationen zu sein. Grosser Fluch von Babel; nicht in der Lage zu sein, mit einem Mitmenschen zu sprechen.» Keine Spur von dem sonst für diese Zeit so typischen Orientalismus, nicht einmal vom legendären Harem, der erotischen Projektionsfläche par excellence, die sonst in keinem Reisetagebuch fehlte, scheint der amerikanische Schriftsteller phantasiert zu haben.

Osmanische Völkervielfalt

Die Eindrücke dieser Besucher vermitteln ein Gefühl von der ethnischen Vielfalt der ehemaligen Hauptstadt des Osmanischen Reiches – neben Türken lebten dort in grosser Zahl Griechen, Armenier und Juden. Ausserdem war hier wie auch in Smyrna (dem heutigen Izmir) die übernationale Gruppe der Levantiner vertreten, Nachfahren von Einwanderern römisch-katholischen Glaubens, die jahrhundertelang die städtischen Gesellschaften des Ägäisraumes und östlichen Mittelmeers geprägt hatten und die mit den orientalischen Christen, von der Religion einmal abgesehen, wenig gemein hatten. Im Zuge der grossangelegten Reform des Osmanischen Reiches nach westlichem Vorbild, die 1839 mit dem Dekret von Gülhane eingeleitet wurde, holte man zudem viele Spezialisten aus dem Westen nach Konstantinopel. Umgekehrt gingen viele Türken etwa nach Paris, um dort zu studieren oder berufliche Erfahrungen zu sammeln. Dem «Tanzimat», wie die vier Jahrzehnte andauernde Periode genannt wurde, waren grosse Gebietsverluste vorausgegangen, und man wollte auf ökonomischem, kulturellem, militärischem Gebiet zügig Fortschritte machen, um den Niedergang des Reiches aufzuhalten.
Der Italiener Donizetti Pascha wurde eingestellt, um dem osmanischen Militärorchester eine moderne Form zu geben. Der französische Ingenieur Eugène Henri Gavand bekam den Auftrag, eine unterirdische Standseilbahn zu entwerfen. Als diese 1875 in Betrieb genommen wurde, konnte die Anhöhe von Galata, von manchen Muslimen «Berg der Ungläubigen» genannt, leicht gemeistert werden. Cyrus Hamlin, ein amerikanischer Missionar, begründete das Robert College, das später zur Bosphorus University wurde, die bis heute zu den renommiertesten staatlichen Hochschulen zählt. Ein weiteres Beispiel für einen «ausländischen Gastarbeiter» jener Zeit ist der Brite James Robertson, der zum Chef der Osmanischen Münze ernannt wurde. Sultan Abdülmecid I. liess auf dem Gelände des Topkapı Sarayı, des Sultanspalastes, eine Replik der Londoner Münze schaffen. Die ersten unter Robertsons Regie entworfenen Goldmünzen wurden im Juni 1843 geprägt. In seiner umfangreichen Nebentätigkeit als Fotograf – unter anderem hielt er, als einer der ersten Kriegsfotografen überhaupt, den Krim-Krieg fest – fertigte Robertson 1854 vom Beyazıt-Turm des osmanischen Kriegsministeriums aus die erste Panoramafoto der Stadt an.
Robertson lebte an der Asmalı-Mescid-Strasse in Pera, wo sich das Leben der Ausländer Konstantinopels konzentrierte und die Botschaften angesiedelt waren. Sein Fotostudio hatte er seit 1854 in der Grande Rue de Péra 293, die heute İstiklâl Caddesi heisst und eine von Istanbuls wichtigsten Einkaufsstrassen ist. Es war im Übrigen kein Zufall, dass die ersten Fotografen des Osmanischen Reiches Ausländer, Armenier oder Griechen waren. Der Islam verbietet zwar nicht die Bilder an sich, aber deren Verehrung oder Anbetung. Das erste von einem Muslim betriebene Fotostudio Istanbuls wurde erst 1910 eröffnet.
Einen erneuten Zustrom westlicher Wissenschafter erlebte die Türkei in den 1930er Jahren, als nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten deutsche Akademiker und Beamte aus politischen oder rassistischen Gründen von ihren Posten verdrängt wurden; eine nicht unbeträchtliche Zahl fand an türkischen Hochschulen eine neue, meist gut dotierte Beschäftigung. Und auch heute noch bündeln sich in Istanbul die Hoffnungen von Menschen, die Krieg und Chaos entkommen sind – allerdings richten sie ihren Blick nun auf Europa oder andere Erdteile. Istanbul ist Transit-Stadt, Knotenpunkt, Sprungbrett, aber nicht nur das. 95 Prozent der mehr als 14 Millionen Menschen, die in Istanbul leben, sind nicht dort geboren worden. Und obwohl es viele Ausländer gibt, ist es nicht westlich kosmopolitisch im Sinne von London oder New York. Unter den ethnischen Minderheiten der Türkei konzentrieren sich die verbliebenen Juden, Armenier und Griechen auf diese Stadt. Nicht zuletzt ist Istanbul die Stadt mit der grössten Zahl von Kurden überhaupt, gemäss Schätzungen sind es 4 Millionen.
Bosnier, bulgarische Türken, iranische und irakische Zuwanderer – unter letzteren auch Turkmenen – haben in der Stadt eine längere Geschichte. Der Zuzug von Iranern, die vom «moderaten» Präsidenten Hassan Rohani enttäuscht sind, hat sich in jüngster Zeit verstärkt. Viele verkaufen ihr Hab und Gut, erwerben nach der Ankunft in der Türkei Grundeigentum und sichern sich damit ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht. Russen und Menschen aus den ehemaligen Sowjetrepubliken wurden früher häufig mit undurchsichtigen Geschäften und Prostitution in Verbindung gebracht, heute stehen Handel und Tourismus zwischen beiden Ländern im Vordergrund – unterstützt von der Visafreiheit, die seit fünf Jahren zwischen der Türkei und Russland herrscht. Viele westliche Ausländer werden von ihren Arbeitgebern meist nur für ein paar Jahre nach Istanbul entsandt, wo zahlreiche internationale Konzerne und Unternehmensberatungen Niederlassungen haben. Lehrer aus dem englischsprachigen Ausland geben Sprachunterricht an den Schulen und privaten Universitäten, die heute wie Pilze aus dem Boden schiessen.
Der Besuch der zentralen Polizeibehörde von Istanbul erlaubt eine Momentaufnahme, um zu verstehen, woher die Menschen kommen, die eine Aufenthaltserlaubnis beantragen. Die Antragsteller werden mit ihren Vornamen aufgerufen, dann folgt der jeweilige Ländername. Syrien, der Irak, Turkmenistan, Iran, Kasachstan und Afghanistan sind am häufigsten vertreten, ab und zu erhebt sich ein Erasmus-Student aus der Menge der ungeduldig Wartenden.

«Gäste» aus Syrien

Seit einigen Jahren sind in der Stadt immer häufiger arabische Stimmen vernehmbar, Immobilienmakler und Geschäfte versuchen potenzielle Kunden mit arabischen Schriftzügen auf sich aufmerksam zu machen. Viele Türken beklagen, dass Istanbul «arabisiert» werde. Einerseits handelt es sich dabei um wohlhabende Touristen aus den Golfstaaten, Libanon, Libyen oder Ägypten, die hier ein paar Tage eine für sie ungewohnte Freiheit erleben möchten, andererseits um syrische Flüchtlinge, deren offizielle Zahl alleine für Istanbul bei 330 000 liegt. Die Dunkelziffer gilt als hoch, nicht alle sind polizeilich registriert. Viele Syrer haben in Fatih – einem konservativen Stadtbezirk auf der europäischen Seite, unweit der bekannten historischen Bauwerke – eine neue Heimat gefunden. Dass die Assimilierung der Syrer, die als überaus selbstbewusst gelten und von denen viele nicht einmal auf finanzielle Hilfe angewiesen sind, nicht reibungslos vonstattengeht, zeigen einzelne Demonstrationen von Türken gegen die neuen Nachbarn. Im Gegensatz zu anderen Flüchtlingen, die hier nur auf Zwischenstation sind, können sich Syrer überall bewegen und brauchen Polizeikontrollen nicht zu fürchten, denn sie laufen nicht Gefahr, deportiert zu werden. Der offiziellen Sprachregelung folgend gelten sie nämlich nicht als «Flüchtlinge», sondern als «Gäste».
Allmählich schaffen sich die Syrer ihre eigene Welt in Istanbul. Für die Gebildeten unter ihnen, die oft auch Englisch sprechen, eröffnet die Kenntnis des Arabischen auf dem türkischen Arbeitsmarkt durchaus Chancen, etwa im Medizintourismus. Viele Araber kommen nach Istanbul, um sich preisgünstig Haare transplantieren zu lassen, und Mitarbeiter der Kliniken akquirieren und beraten telefonisch neue Kunden in ihrer Muttersprache. In Theaterworkshops haben junge Syrer die Möglichkeit, ihre Schwierigkeiten in einem Land zu thematisieren, dessen Sprache mit ihrer eigenen nicht verwandt und dessen Mentalität trotz gemeinsamer Religion und gewissen ähnlichen Codes durchaus Unterschiede aufweist; Araber sunnitischen, alawitischen und christlichen Glaubens gibt es traditionell in der Türkei in grösserer Zahl nur in Südostanatolien.
Aufmerksame Beobachter der Fremden erinnern an die Toleranz, für die Konstantinopel bzw. Istanbul stets bekannt war, und fordern Geduld, bis sie sich besser mit ihrer neuen Heimat arrangiert haben. Denn nichts deutet darauf hin, dass die «Gäste» aus Syrien in absehbarer Zeit in ihre kriegsverwüstete Heimat zurückkehren könnten.

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