© DPAWusste Frau Merkel vor der Wahl mehr als ihre Wähler?
Es gibt Tage, an denen sich die politische Welt plötzlich dreht. Am Dienstagnachmittag, im dritten Stock des Berliner Reichstagsgebäudes,
kündigte Jürgen Trittin vor der Grünen-Fraktion seinen Rückzug an. Er sagte etwas von Zukunftsperspektiven und der neuen Generation, die jetzt kommen müsse. Aber im Kern war es ein Eingeständnis: Trittins Wahlkampfstrategie, die vor allem auf Steuererhöhungen zielte, war gescheitert.
Erfolg hatten hingegen Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihre CDU, die ihre Kampagne nur mit einem konkreten Thema bestritten: keine Steuererhöhungen. Während sich Trittin für sein falsches Wahlprogramm noch geißelte, gaben CDU-Politiker schon eifrig Interviews – und schwenkten auf die Linie von SPD und Grünen ein. Das Nein zu höheren Steuern
sei in den anstehenden Koalitionsgesprächen durchaus verhandelbar, ließen sie durchblicken. „Wir sollten jetzt schauen, wie die Gespräche laufen“, sagte Finanzminister Wolfgang Schäuble. „Natürlich werden wir in allen Fragen kompromissbereit sein müssen“, erläuterte Parteivize Armin Laschet.
Testballons aus der Union
Noch nie hat eine Partei ihr zentrales Wahlversprechen so schnell kassiert, und noch nie war die Not so groß wie diesmal für Merkel und die CDU. Es galt, eilig ein Signal an den neuen Wunschpartner für die Regierungsbildung auszusenden.
Und die SPD hat verstanden: Am Freitagabend beschloss ein Parteikonvent im Berliner Willy-Brandt-Haus, Sondierungsgespräche mit Merkel aufzunehmen. Messlatte seien die Forderungen aus dem Wahlprogramm, „insbesondere für eine gerechte und auskömmliche Steuerpolitik“. Also ein Spitzensteuersatz von 49 Prozent statt der bisherigen 42 bis 45 Prozent. Selbst der Parteilinke Ralf Stegner freut sich über das christdemokratische Entgegenkommen: „Die Kollegen von der CDU fangen schon mal an, wo wir noch gar nicht mit denen verhandeln wollen“, sagte er im Fernsehen.
Merkels Leute versuchten, den Unmut in den eigenen Reihen zu beschwichtigen: alles nicht so gemeint. Wirklich nicht? Ganz überraschend ist der Wahlausgang für die Kanzlerin jedenfalls nicht. Dass es zu einer großen Koalition kommen könnte, hatte sie schon lange im Blick, umso mehr, als sie für die Rettung des siechen Partners FDP nichts unternahm. Ihr Umgang mit dem Steuerthema ist ein Wahlbetrug mit Ansage, jedenfalls für jene, die hinzuhören wussten.
Denn einzelne Unionspolitiker ließen bereits im Vorfeld Testballons aufsteigen. „Wir haben immer gesagt, dass wir die Absenkung des Spitzensteuersatzes unter Rot-Grün für überzogen gehalten haben“, sagte die saarländische Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer schon im Frühjahr. „Insofern wäre aus meiner Sicht eine Anhebung bis zum damaligen Level auch noch einmal möglich.“ Als Helmut Kohl 1998 abgewählt wurde, mussten Besserverdiener in der Spitze 53 Prozent an den Fiskus abführen. Da wäre also bei den Koalitionsverhandlungen noch Luft nach oben.
Steuerpläne mobilisieren Stammwähler
Norbert Barthle, immerhin haushaltspolitischer Sprecher der Union im Bundestag, äußerte sich vor zwei Jahren ähnlich: „Wer als Lediger zwischen 100.000 und 250.000 Euro zu versteuern hat, würde einen etwas höheren Satz verkraften.“ Entsprechend weich formulierten die Unionsparteien den Passus im Wahlprogramm. Bei anderen Steuerarten enthält es ein klares „Nein“ zu Aufschlägen, bei der Einkommensteuer verweist es dagegen nur vage darauf, dass die oberen Einkommensgruppen schon jetzt die höchste Steuerlast trügen.
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In ihren Wahlkampfreden ließ es Merkel hingegen an Deutlichkeit nicht fehlen. Noch auf der Berliner Abschlusskundgebung, wenige Stunden vor der Öffnung der Wahllokale, sagte sie gleich zu Beginn ihrer Rede klipp und klar: „Wenn wir die Einkommensteuer erhöhen, dann besteht die Gefahr, dass wir nicht mehr Steuereinnahmen haben, sondern weniger, und dass wir nicht mehr Arbeitsplätze haben, sondern weniger. Und diesen Weg wird die Union nicht gehen, meine Damen und Herren.“
Je mehr Kritik die Oppositionsparteien für ihre Steuerpläne einstecken mussten, desto begeisterter hielt Merkel dagegen. Strategisch hatte sie das Thema eingeplant, um in der letzten Wahlkampfphase die Stammwähler zu mobilisieren. Zudem erwies es sich, dass die Parole auch für Wechselwähler attraktiv war. Die parteinahe Konrad-Adenauer-Stiftung verweist in ihrer Wahlanalyse auf die vielen früheren Grünen-Wähler, die diesmal direkt zur CDU überliefen: „Dass hier die Steuerpläne der Grünen eine Rolle gespielt haben, ist nicht ganz unwahrscheinlich.“
Die Lektion der Bundeskanzlerin
Das Thema entfesselte eine solche Dynamik, dass sich die SPD im August hektisch von den eigenen Erhöhungsplänen distanzierte. „Wir können in Deutschland auch wieder Steuern senken, wenn es endlich gelingt, Steuerbetrug wirksam zu bekämpfen“ – mit diesem Satz vermasselte Parteichef Sigmar Gabriel sein eigenes Volksfest am Brandenburger Tor. Jetzt zieht er mit dem Wunsch nach höheren Steuern in die Sondierungsgespräche, um die eigene Parteilinke für ein Bündnis mit Merkel zu gewinnen. Auch weil er weiß, dass sich die CDU mit einem höheren Spitzensteuersatz leichter tut als mit manch anderer Forderung aus dem SPD-Programm.
Der taktische Umgang mit dem Steuerthema fügt sich bei Merkel in ein Muster. So hat sie es schon 2009 gemacht. Pünktlich zum Wahltermin nahm sie eine üppige Wunschliste ins Programm auf: Senkung des Eingangssteuersatzes von 14 auf 12 Prozent, Verschiebung des Höchststeuersatzes von 52.552 Euro auf 60.000 Euro. Das unterschied sich kaum von den Vorschlägen der FDP und ihres Vorsitzenden Guido Westerwelle. Kaum war die Wahl vorüber, erklärte Merkel die Forderungen Westerwelles für absurd. Sie kam damit durch.
Gelernt hatte Merkel ihre Lektion schon viel eher. Im Wahlkampf 2005 kündigte sie eine Erhöhung der Mehrwertsteuer um zwei Prozentpunkte an, das brachte sie fast um den schon sicher geglaubten Wahlsieg. Die SPD hielt erbittert dagegen. In den Koalitionsverhandlungen einigten sich beide Parteien dann auf drei Prozent. Durch die Mehreinnahmen war die Regierung bis zum Ausbruch der Bankenkrise alle lästigen Spardebatten los. Die plötzliche Kehrtwende hing der SPD kaum nach, für ihren Wahl-Absturz vier Jahre später gab es andere Gründe. Merkel staunte und zog ihre Schlüsse.
Gebrochene Versprechen überraschen nicht
Im Wahlkampf, sagen auch die Demoskopen, darf man die Bürger keinesfalls mit Mehrbelastungen konfrontieren. Gleichwohl sind gebrochene Versprechen für die Wähler nicht wirklich überraschend. In einer Allensbach-Umfrage aus dem Juni 2013 gaben 49 Prozent der Befragten an, nach der Wahl würden die Steuern sowieso erhöht – egal, was die Parteien versprechen. Nur 33 Prozent glaubten das nicht. Und bis zur nächsten Wahl ist der Ärger sowieso verraucht. „Wenn man zu Beginn einer Legislaturperiode die Steuern erhöht, ist das in vier Jahren längst vergessen“, sagt Allensbach-Forscher Michael Sommer.
Besonders bizarr wäre die Situation, falls es doch noch zu schwarz-grünen Koalitionsgesprächen käme und Trittin die Fleece-Jacke des Polit-Pensionärs, mit der er neuerdings herumläuft, gegen den Anzug des künftigen Vizekanzlers eintauschte. Dann müsste er Teile des Steuerprogramms, dessen Scheitern er mit seinem Rückzug eingestanden hat, bei Merkel durchsetzen. Der Kanzlerin würde es nichts ausmachen.
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