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Mittwoch, 11. Juli 2018

Spiegel: Geldforderungen der Bundesbank Sitzt Deutschland wirklich auf einer Billionen-Bombe? Fast eine Billion Euro schuldet die Europäische Zentralbank der Bundesbank im internen Zahlungssystem Target 2. Kritiker sehen darin ein gewaltiges finanzielles Risiko für Deutschland. Doch wie groß ist die Gefahr tatsächlich? © Christian O. Bruch/ laif Von Stefan Kaiser

Geldforderungen der BundesbankSitzt Deutschland wirklich auf einer Billionen-Bombe?

Fast eine Billion Euro schuldet die Europäische Zentralbank der Bundesbank im internen Zahlungssystem Target 2. Kritiker sehen darin ein gewaltiges finanzielles Risiko für Deutschland. Doch wie groß ist die Gefahr tatsächlich?
EZB-Zentrale in Frankfurt
DPA
EZB-Zentrale in Frankfurt

Schaut man sich in den rechten Ecken des Internets um, ist die Sache klar: Der finanzielle Untergang Deutschlands versteckt sich hinter dem etwas sperrigen Namen "Target 2". Dieses offiziell als Zahlungssystem europäischer Notenbanken angelegte System wird demnach von den Euro-Südländern dazu benutzt, um Deutschland auszunehmen. Über einen "Haftungswahnsinn" schimpft etwa die AfD-Fraktionschefin Alice Weidel, und der Unternehmensberater Markus Krall sorgt sich um das "Vermögen des deutschen Bürgers".
Und tatsächlich nehmen die reinen Zahlen langsam schwindelerregende Ausmaße an: Auf 976 Milliarden Euro sind die Forderungen der Bundesbank bis Ende Juni angestiegen. Ausgeschrieben sind es genau 976.266.420.827 Euro. Da fehlt nicht mehr viel zur Billion. Und glaubt man den Kritikern und Populisten, dann sind das alles Kredite Deutschlands an die klammen Länder Südeuropas.
Aber was genau bedeuten diese Zahlen eigentlich? Schulden die Südeuropäer uns Deutschen wirklich so viel Geld? Und wie gefährlich ist das? Antworten auf die wichtigsten Fragen.
Target 2 - was ist das überhaupt?
Hinter dem Namen Target 2 verbirgt sich ein Verrechnungssystem der Notenbanken in der Eurozone. Als die europäische Währungsunion Ende der Neunzigerjahre konstruiert wurde, einigte man sich auf ein zweistufiges System. Neben der großen Europäischen Zentralbank (EZB) im Mittelpunkt des Systems, sollten die nationalen Notenbanken weiter bestehen bleiben. In Deutschland ist das die Bundesbank, in Italien die Banca d'Italia, in Frankreich die Banque de France und so weiter. Alles zusammen nennt man das Eurosystem.
Wenn zwischen zwei Euroländern Geld hin und her fließt, braucht es dafür ein Zahlungssystem der Notenbanken. Ein Beispiel: Eine italienische Firma aus Mailand kauft einem deutschen Unternehmen aus Schwäbisch Gmünd eine Maschine ab. Dafür überweisen die Mailänder Geld über ihre Bank auf das Bankkonto der deutschen Firma.
Im Hintergrund spielt sich dabei Folgendes ab (siehe Grafik):
1. Die italienische Bank des Mailänder Kunden belastet dessen Konto mit dem fälligen Betrag und überweist das Geld an die deutsche Bank des schwäbischen Verkäufers.
2. Die Banca d'Italia belastet das Target-2-Konto, das die italienische Geschäftsbank bei ihr unterhält, mit dem gleichen Betrag - und verbucht eine Verbindlichkeit gegenüber der Bundesbank.
3. Die Bundesbank wiederum schreibt den Betrag der Geschäftsbank des deutschen Verkäufers gut - und verbucht eine Forderung gegenüber der Banca d'Italia.
4. Die deutsche Geschäftsbank bucht das Geld auf das Konto der Firma aus Schwäbisch Gmünd.

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Am Ende des Tages hat also die italienische Firma Geld an die deutsche gezahlt. Und weil am selben Tag womöglich noch mehr Geld zwischen Italien und Deutschland hin und her geflossen ist, verrechnen die Zentralbanken alle Forderungen und Verbindlichkeiten - und übertragen sie auf die EZB. So kommt es, dass die Bundesbank schließlich eine Forderung an die EZB hat und die Banca d'Italia eine Verbindlichkeit.
Das Ganze ist aber erst mal rein virtuell. Es geht ja, wie gesagt, nur um ein Buchungssystem. Und tatsächlich hat Deutschland Italien in diesem ganzen Prozess auch kein Geld geliehen. Schließlich hat die deutsche Firma aus Schwäbisch Gmünd ja ihr Geld bekommen - und zwar gegen Ware. Von einem Kredit kann also keine Rede sein.
Warum ist das Target-System so ins Ungleichgewicht geraten?
Eigentlich soll das Target-2-System so langweilig sein wie sein Name. Läuft die Wirtschaft in der Eurozone normal, gleichen sich Forderungen und Verbindlichkeiten zwischen den Notenbanken immer einigermaßen aus. Und so war es auch einige Jahre zu Beginn der Währungsunion.
Doch seit der Finanzkrise vor zehn Jahren ist in der Eurozone kaum mehr etwas normal. Nicht nur das Finanzsystem musste damals auf die Intensivstation, die gesamte Wirtschaft wurde krank. Und die Target-2-Bilanzen sind eine Art Fieberthermometer, an dem sich ablesen lässt, dass etwas nicht stimmt.
Zwischen 2008 und 2012 haben sich die Target-Salden damals rasant auseinanderentwickelt. Im Juli 2012 hatte Deutschland (also die Bundesbank) Forderungen von 727 Milliarden Euro gegenüber der EZB angehäuft. Auf der anderen Seite wies die spanische Zentralbank Verbindlichkeiten von 423 Milliarden Euro aus. Bei der Banca d'Italia waren es immerhin 280 Milliarden Euro.
Die Ungleichgewichte werden größer
Target-2-Salden der jeweiligen nationalen Notenbanken im Eurosystem (in Milliarden Euro)
DeutschlandSpanienFrankreichGriechenlandItalien20102012201420162018-1000-500050010001500
Quelle: EZB
Diese enormen Ungleichgewichte waren zustande gekommen, weil immer mehr Geld aus Spanien, Italien und Griechenland in Richtung Deutschland floss. Die Investoren zogen ihre Finanzanlagen aus den Krisenländern und brachten sie ins als sicher geltende Deutschland. Und mit jeder Überweisung wuchsen die Verbindlichkeiten der Südländer-Zentralbanken genauso wie die Forderungen der Bundesbank. Ein vorläufiges Ende fand das Ganze erst, als EZB-Präsident Mario Draghi im Juli 2012 ankündigte, alles zu tun, um den Euro zu retten, "koste es, was es wolle".
Warum werden die Ungleichgewichte jetzt wieder größer?
Ab Mitte 2012 gingen die Ungleichgewichte deutlich zurück, weil sich die Eurokrise beruhigte. Ein Teil des Geldes, das zuvor aus den Krisenländern nach Deutschland abgeflossen war, kam wieder zurück.
Doch seit Januar 2015 geht die Schere zwischen der Bundesbank auf der einen und Ländern wie Italien und Spanien auf der anderen Seite wieder auf - so stark, dass selbst die Höchststände aus den Krisenmonaten 2012 mittlerweile übertroffen wurden. Ist die Lage also noch schlimmer als damals?
Nein. Und das ist ein Teil, den viele Kritiker unterschlagen. Denn der Anstieg der Target-Salden seit 2015 geht nicht in erster Linie auf krisenhafte Geldverschiebungen zurück wie etwa 2012. Vielmehr steckt diesmal die EZB selbst hinter dem Phänomen - zusammen mit den nationalen Notenbanken.
Denn seit Januar 2015 kaufen die Notenbanken des Eurosystems im Auftrag der EZB massenhaft Staatsanleihen und andere Wertpapiere am Markt auf - bisher für fast 2,5 Billionen Euro.
EZB-Zentrale in Frankfurt
REUTERS
EZB-Zentrale in Frankfurt
Diese Aufkäufe sind natürlich auch ein Krisenphänomen - ohne Krise hätte die EZB sie nie beschlossen. Sie will so dafür sorgen, dass die Zinsen an den Finanzmärkten niedrig bleiben, die Kredite fließen, die Wirtschaft wächst - und so auch die Preise wieder stärker steigen.
Aber die Anleihekäufe haben erst mal nichts mit Geldbewegungen zwischen den Euroländern zu tun. Der Grund dafür, dass sie sich trotzdem in den Target-Zahlen niederschlagen, ist laut Bundesbank und EZB ein anderer: Wenn die Zentralbanken der Euroländer Anleihen aufkaufen, tun sie das oft auch von Banken, die ihren Sitz eigentlich außerhalb der Eurozone haben, vor allem am Finanzplatz London.
Diese Londoner Banken haben über Niederlassungen in Frankfurt häufig ein Target-2-Konto bei der (ebenfalls in Frankfurt ansässigen) Bundesbank - ihr Anleiheverkauf läuft in dem Fall also auf das deutsche Target-2-Konto - und treibt somit die Forderungen der Bundesbank gegenüber der EZB nach oben. Gleichzeitig steigen zum Beispiel die Verbindlichkeiten Spaniens, wenn die spanische Zentralbank eine Staatsanleihe von der Frankfurter Niederlassung einer Londoner Bank kauft.
Natürlich sind die Anleihekäufe nicht der einzige Faktor - gerade im Fall Italiens dürften einige Investoren angesichts der politischen Unsicherheiten auch in den vergangenen Monaten wieder Geld abgezogen haben. Der gewaltige Anstieg der Salden ist damit allein aber nicht zu erklären.
Kann das Target-System gefährlich werden?
Die Ungleichgewichte im Target-2-System sind so lange unproblematisch, wie die Währungsunion hält. Schwierig wird es, wenn ein Land den Euro verlassen will - und noch schwieriger, wenn es mehrere Länder sind.
Momentan sind beide Varianten eher unwahrscheinlich. Aber noch vor wenigen Wochen schien zumindest ein möglicher Euro-Austritt Italiens denkbar - schließlich sind dort mit der rechtsextremen Lega und der populistischen Fünf-Sterne-Bewegung zwei eurokritische Parteien in der Regierung.
Was also wäre, wenn Italien den Euro verließe? Stand Ende Mai wies die Banca d'Italia Target-Verbindlichkeiten von 465 Milliarden Euro aus. Diese Summe müsste sie eigentlich bei einem Euro-Austritt begleichen. Doch das scheint vielen Experten eher eine theoretische Verpflichtung. Praktisch würde sich ein Land, das den Euro im Zorn verlässt, wohl nicht mehr darum kümmern, die offenen Rechnungen an die ehemaligen Partner zu bezahlen.
EZB-Chef Mario Draghi
AFP
EZB-Chef Mario Draghi
Also würden der EZB 465 Milliarden Euro fehlen - oder auch nicht. Denn ganz so einfach ist das bei einer Zentralbank nicht. So gibt es Experten, die davon ausgehen, dass die EZB die zeitlose Forderung an die Banca d'Italia auch im Falle eines Euro-Austritts einfach aufrechterhalten könnte - freilich ohne, dass sie je beglichen wird. Sie wäre weiter nur ein Rechnungsposten in der Bilanz.
Theoretisch könnte die EZB das Loch in ihrer Bilanz auch mit neu geschaffenem Geld wieder auffüllen. Denn das kann eine Zentralbank ja: Geld aus dem Nichts schaffen. Allerdings bekäme sie dann womöglich ein Glaubwürdigkeitsproblem.
Die dritte Variante ist, dass die EZB den Schaden von den einzelnen nationalen Notenbanken begleichen lassen würde - und zwar nach dem Kapitalschlüssel der eingezahlten Eigenkapitalanteile. Demnach hält die Bundesbank 25,6 Prozent an der EZB, was einem Anteil von knapp 120 Milliarden Euro am 465-Milliarden-Euro-Schaden entspricht.
Noch schlimmer wäre es, wenn die gesamte Eurozone mitsamt der EZB auseinanderflöge: Dann nämlich würde die Bundesbank tatsächlich auf ihrer beinahe billionenschweren Forderung sitzenbleiben - und hätte ein gewaltiges Problem. Aber von solchen Problemen gäbe es in diesem Fall wahrscheinlich noch mehr.
Wie lassen sich die Ungleichgewichte wieder ausgleichen?
Die Ungleichgewichte verschwinden mit der Zeit automatisch, wenn die Wirtschaft in allen Euroländern normal läuft und die EZB ihr Anleihekaufprogramm einstellt. Das könnte bald der Fall sein. Ab 2019 will die EZB zumindest keine neuen Anleihen mehr aufkaufen, allerdings werden auslaufende Papiere noch weiter ersetzt. Dennoch dürften sich die Ungleichgewichte dann zumindest nicht erhöhen.
Wenn es keine nationalen Zentralbanken mehr gäbe, wären übrigens auch die Target-Salden irrelevant. Hätte man zum Start der Währungsunion also Bundesbank und Co. abgeschafft und alle Funktionen bei einer riesigen EZB gebündelt, gäbe es die aufgeregte Diskussion heute gar nicht.
Und was hat das Ganze mit Hans-Werner Sinn zu tun?
Neulich wurde der italienische Ökonom Luigi Zingales von der "FAZ" gefragt, wie er die Target-Sache sehe. Seine Antwort: "Dieses Problem ist eine Erfindung des deutschen Ökonomen Hans-Werner Sinn."
Tatsächlich hat Sinn die Target-Salden im Jahr 2011 gewissermaßen entdeckt. Vorher wussten selbst Ökonomen, die sich mit der EZB beschäftigten, nicht, dass es das System überhaupt gibt. "Am Anfang hatte ich ja auch nur diese Zahl und wusste nicht so recht, was sie bedeutet", räumte Sinn damals ein. Aber nach und nach schaffte er es, das Problem besser zu begreifen und für die Deutschen aufzubereiten. Er schrieb sogar ein Buch über die "Target-Falle". Dabei sparte der Mann mit dem Käpt'n-Ahab-Bart nicht mit Schwarzmalerei.
Hans-Werner Sinn
Hans-Werner Sinn
Heute steht Sinn nicht mehr so sehr in der Öffentlichkeit. Als Präsident des Ifo-Instituts hat er sich vor zwei Jahren zurückgezogen. Sein Nachfolger Clemens Fuest sieht die Zukunft zwar nicht ganz so düster. Doch auch ihm sind die hohen Ungleichgewichte offenbar nicht geheuer. Erst jüngst sprach er von einem "Alarmsignal".

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version dieses Textes haben wir Alice Weidel als AfD-Chefin bezeichnet, sie ist jedoch AfD-Fraktionschefin. Zudem hieß es, die Bundesbank halte 18 Prozent der EZB-Anteile, tatsächlich sind es 25,6 Prozent, wenn man das voll eingezahlte Kapital betrachtet. Wir haben die entsprechenden Stellen korrigiert.

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