Volksinitiative in der SchweizAusländer raus?
Die Schweizer stimmen darüber ab, ob Ausländer schon nach Bagatellvergehen des Landes verwiesen werden sollen. In Wahrheit geht es um viel mehr.
24.02.2016, von JOHANNES RITTER
© REUTERSDie Schweizer Volkspartei kämpft für die Abschiebung krimineller Ausländer, schweizerisch Ausschaffung.
Die Schweizer sind eigentlich Freunde der leisen Töne. Umso mehr fällt es auf, wenn plötzlich reihenweise laut Alarm geschlagen wird. Von einem „Anschlag auf die Schweiz“, der „Missachtung grundlegender Menschenrechte“, einer „Attacke auf den Rechtsstaat“, von „Unmenschlichkeit“ und einer „tickenden Zeitbombe“ war in den vergangenen Wochen in der Schweiz die Rede. Was viele Bürger derart in Wallung bringt, ist die sogenannte Durchsetzungsinitiative. Das klingt nach einem sturzlangweiligen bürokratischen Akt, ist in Wahrheit aber ein echter Knaller im langen Reigen der eidgenössischen Volksinitiativen.
Vordergründig geht es in dieserVolksabstimmung am nächsten Sonntag um eine Verschärfung des Ausländerrechts: In der Schweiz lebende Ausländer sollen fortan automatisch des Landes verwiesen werden, wenn sie Straftaten begangen haben, wobei kleinere Vergehen schon genügen sollen, um abgeschoben (in der Schweiz sagt man: „ausgeschafft“) zu werden. Schon das sorgt für ordentlich Zündstoff in einem Land, in dem immerhin ein Viertel der ständigen Wohnbevölkerung keinen Schweizer Pass hat. Darüber hinaus stellen sich mit dieser Initiative aber noch viel größere heikle Fragen, die das ganze, bisher so fein ausbalancierte demokratische System der Eidgenossenschaft betreffen. Der Schweizer Historiker Thomas Maissen fasst die Situation bedauernd zusammen: „Die Schweiz ist immer wieder ein Vorreiter, wenn grundlegende Rechtsnormen in Frage gestellt werden – statt dass sie die liberale Tradition beschützt, die in vielen Ländern sehr gefährdet ist.“
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Vergewaltigung, Raub, Menschen- und Drogenhandel
Die Vorgeschichte zur anstehenden Volksabstimmung begann im November 2010. Damals votierte eine Mehrheit der Stimmbürger für die Annahme der Initiative „Für die Ausschaffung krimineller Ausländer (Ausschaffungsinitiative)“. Das war ein Sieg für die Schweizerische Volkspartei (SVP). Diese nationalkonservative Partei, groß geworden durch ihren Vorkämpfer und Financier Christoph Blocher, ist mit einem Wähleranteil von zuletzt 29,4 Prozent die mit Abstand stärkste Kraft im Nationalrat, der großen Kammer des Schweizer Parlaments. In Ermangelung einer eigenen Mehrheit betreibt die SVP routinemäßig aber auch eine Art außerparlamentarische Opposition, indem sie das Instrument der Volksinitiative für ihre Zwecke nutzt. Auch die Abstimmungen über den Baustopp für Minarette und die Begrenzung der Zuwanderung in die Schweiz („Masseneinwanderungsinitiative“), die beide eine Mehrheit fanden, hatten die Rechtspopulisten an die Urne geschoben.
Eidgenössische Volksinitiativen sind ein besonders scharfes Schwert, weil des Volkes Wille nicht etwa bloß Gesetzeskraft hat, sondern gleich in die Verfassung aufgenommen werden muss. Auf dem Weg zur Umsetzung einer angenommenen Initiative in die Praxis gibt es üblicherweise allerdings noch eine Instanz: das Parlament. Es obliegt den gewählten Volksvertretern, aus dem angenommenen Initiativtext ein konkretes Gesetz zu stricken. Auf diese Weise können nicht nur unnötige Härten beseitigt werden; das Parlament muss das Gesetz vor allem so formulieren, dass es nicht mit anderen bestehenden Verfassungsbestimmungen und völkerrechtlichen Verträgen kollidiert.
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Genau das ist im Fall der Ausschaffungsinitiative geschehen. Um nicht offensichtlich gegen das Verfassungsprinzip der Verhältnismäßigkeit zu verstoßen, hat das Parlament nach jahrelangen Diskussionen eine Härtefallklausel eingebaut – nicht zuletzt, um die vielen in der Schweiz geborenen Ausländer etwas zu schützen. Das jedoch ging der SVP gegen den Strich. Noch bevor die Regierung, die in der Schweiz mehr als Spitze der Verwaltung denn als politischer Gestalter gesehen wird, dem Parlament überhaupt einen Entwurf für die Umsetzung der Ausschaffungsinitiative vorgelegt hatte, lancierte die Partei schon die Durchsetzungsinitiative. Und diese ist deutlich schärfer geraten als ihre Vorgängerin. Zum Katalog der Delikte, die zwingend zum Landesverweis führen, gehören nicht nur Straftaten wie Mord, Totschlag, Vergewaltigung, Raub, Menschen- und Drogenhandel, sondern auch schon Bagatellvergehen.
Jährlich rund 10.000 Ausländer abgeschoben
Zwei Beispiele: Eine italienische Putzfrau bezieht Sozialhilfe und vergisst, eine Einnahme von ein paar hundert Franken zu deklarieren (ohne aktiv zu lügen). Sie soll nach der Durchsetzungsinitiative künftig automatisch abgeschoben werden. Ein Deutscher, der mit einer Schweizerin verheiratet ist und mit ihr zwei Kinder hat, gerät in eine Schlägerei, weil er einer Frau helfen will, die belästigt wird. Weil er dabei jemanden verletzt, wird er wegen Körperverletzung verurteilt. Sechs Jahre zuvor hatte der Mann schon eine Geldstrafe für zu schnelles Fahren kassiert. Da er nun also zum zweiten Mal straffällig wurde, muss er das Land umgehend verlassen.
Die Möglichkeit, auf dem Rechtsweg gegen die Ausweisung vorzugehen, weil die Bestrafung unverhältnismäßig hart ist, hätte dieser Familienvater nicht. Denn die SVP hat die Bedingungen für die Ausweisung in dem Initiativtext nicht nur derart detailliert ausformuliert, dass in diesem Fall kein Umsetzungsgesetz mehr erforderlich ist, sondern auch die Richter nicht mehr gefragt sind. Und genau darum geht es der Partei: Sie will nicht nur Regierung und Parlament ausbooten, sondern auch die „Kuscheljustiz“, die ihrer Ansicht nach bisher viel zu zahm und nachsichtig mit straffälligen Ausländern umgegangen ist.
Tatsächlich wird damit gerechnet, dass unter dem scharfen Regiment der Durchsetzungsinitiative künftig jährlich rund 10.000 Ausländer abgeschoben werden – das wären wohl mehr als doppelt so viel wie nach den Regeln der Ausschaffungsinitiative. Das lässt all jene Eidgenossen frohlocken, die ohnehin der Meinung sind, dass sich inzwischen zu viele Fremde in ihrem schönen Land eingenistet haben. Da es in der Silvesternacht auch in Zürich zu sexuellen Übergriffen durch Ausländer gekommen ist, wenn auch längst nicht in der Größenordnung wie in Köln, sind die Argumente wider die Einführung einer Zwei-Klassen-Justiz in den Hintergrund gerückt. „Die Befürworter der Durchsetzungsinitiative“, sagt der Historiker Maissen, „folgen einer eingängigen populistischen Argumentation, die leider auch außerhalb der Schweiz verfängt. Sie lautet verkürzt formuliert: Ausländer berauben uns und vergewaltigen unsere Frauen. Die Haltung, dass der ausländische Straftäter schlimmer sei als der einheimische, ist illiberal, aber relativ weit verbreitet. Das Prinzip, dass gleiches Recht für alle gilt, wird so mit Füßen getreten.“
„Ein Anschlag auf die Schweiz und ihre Rechtsordnung“
Nicht minder beunruhigt ist Maissen, der das Deutsche Historische Institut in Paris leitet, über die zweite Linie, welche die SVP verfolgt: die Verschiebung der Gewichte zwischen den politischen Institutionen zugunsten des Volkes. Denn das bietet der Partei, die nach Meinung vieler Beobachter mit einem Drittel der Wählerstimmen am Ende ihres Potentials angekommen ist, die Chance, ihre Positionen auf dem außerparlamentarischen Umweg durchzuboxen. „Wie zielbewusst die SVP ihrem Herrschaftswillen folgt, lässt sich an der sogenannten Selbstbestimmungsinitiative ablesen“, sagt Maissen. Mit dieser juristisch ebenfalls sehr heiklen Initiative unter dem Titel „Schweizer Recht statt fremde Richter“, über die zu einem späteren Zeitpunkt abgestimmt wird, will die Partei nationales Recht grundsätzlich über Völkerrecht stellen.
Schon die Durchsetzungsinitiative lehnen die Schweizer Regierung und alle anderen Parteien im Parlament entschieden ab. Für Philipp Müller, den Präsidenten der schweizerischen FDP, ist sie „ein Anschlag auf die Schweiz und ihre Rechtsordnung“. Der liberale Politiker ist einer unter vielen Eidgenossen, die die Gewaltenteilung, also die fein austarierte Machtbalance zwischen der Bevölkerung als Souverän, dem Parlament als Legislative, der Regierung als Exekutive und den Gerichten als Judikative in Gefahr sehen. Das Zusammenspiel dieser Institutionen sorgte bisher für einen Ausgleich der Interessen und hat verhindert, dass es in der Schweiz zu radikalen politischen Ausschlägen in die eine oder andere Richtung kommt. „Unser demokratisches System fußt darauf, dass sich alle Seiten einbringen“, erläutert der Zürcher Politologe Michael Hermann. Das führe zwar zu langen Entscheidungsprozessen, helfe aber, schwere Fehler zu vermeiden. „Es ist ein gutes System, weil sich die Dinge in der Regel nicht hochschaukeln.“
Einführung von einseitigen Ausländerkontingente
Genau dieses System ist auch das Fundament für die vielgepriesene Rechtssicherheit, mit der die Schweiz im globalen Standortwettbewerb besticht. Mit einer Mehrheit für die Durchsetzungsinitiative jedoch würden Richter und Parlament ihrer Rolle enthoben. Michael Hermann nennt sie deshalb eine „Erniedrigungsinitiative“. Sie könnte am Schluss zu einer Tyrannei der nicht mehr durch das Recht eingehegten Volksmehrheit führen.
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150 Schweizer Rechtswissenschaftler haben in einem gemeinsamen Manifest an die Stimmbürger appelliert, die Durchsetzungsinitiative abzulehnen. Das ist ein in der Schweiz höchst ungewöhnlicher Akt, der mit einem eindringlichen Aufruf schließt: „Die rechtsstaatliche Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit und muss verteidigt werden.“ Die SVP-Initiative ziele darauf, das richterliche Ermessen auszuschalten. Nicht nur würden die in der Verfassung verankerten Grundsätze rechtsstaatlichen Handels ausgehebelt. „Die Initiative steht auch im Widerspruch zu völkerrechtlichen Verträgen, vor allem zur Europäischen Menschenrechtskonvention und zum Freizügigkeitsabkommen mit der Europäischen Union“, schreiben die Professoren.
Spätestens an dieser Stelle wird die Sache auch für die Wirtschaft heikel. Gemäß dem Freizügigkeitsabkommen, das die Schweiz abgeschlossen hat, darf ein EU-Bürger nicht aufgrund von bloßen Bagatelldelikten auf Nimmerwiedersehen in sein Heimatland zurückgeschickt werden. Mit der Durchsetzungsinitiative stießen die Eidgenossen also ihre Partner in Brüssel, die schon über die Masseneinwanderungsinitiative nicht begeistert sind, ein weiteres Mal heftig vor den Kopf. Das würde die laufenden Verhandlungen über den von den Schweizern gewünschten Deckel für die Zuwanderung zusätzlich schwierig, wenn nicht aussichtslos machen. Wenn die Schweiz auch ohne Billigung durch die EU einseitig Ausländerkontingente einführt, droht im Ergebnis der teilweise Wegfall der bilateralen Verträge mit der EU, die für die exportstarke Schweizer Wirtschaft von großer Bedeutung sind.
Beherrschbares Risiko
Der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse warnt deshalb eindringlich vor der Annahme der SVP-Initiative. Die gravierende Ungleichbehandlung von In- und Ausländern sei der Schweiz unwürdig und schade ihrem Ruf als Wirtschaftsstandort mit hoher Rechtssicherheit. Mit den Verstößen gegen EU-Verträge und die Menschenrechtskonvention isoliere sich die Schweiz international und mache sich als Vertragspartner unglaubwürdig. Mit einem konkreten Beispiel verweist der Verband auch auf die Gefahren, die ausländischen Führungskräften in der Schweiz drohen: Ein Manager, der vergisst, eine Ausbildungsunterbrechung seines Sohnes rechtzeitig zu melden, und daher eine Zeitlang unrechtmäßig staatliche Kinderzulagen bezieht, müsste automatisch des Landes verwiesen werden. Für internationale Unternehmen, die auf Topkräfte aus dem Ausland angewiesen sind, hätten solche Unsicherheiten gravierende Folgen, schreibt Economiesuisse. Der Schweiz wäre ein Imageschaden sicher.
Nach Ansicht des Parteienforschers Michael Hermann ist die SVP zum Standortrisiko für die Schweiz geworden. Solange die Partei mit ihren Initiativen nicht durchkomme, sei das Risiko beherrschbar. „Doch dazu müssen die Schweizer verantwortungsbewusst abstimmen, anstatt – eingelullt vom eigenen Wohlstand – selbstgefällig und arrogant dem Trugschluss aufzusitzen, dass man sich alles erlauben könne.“
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