Modernisierung statt Abrüstung
Atomwaffen werden wichtiger
Ausgerechnet in einer Zeit der wachsenden Unsicherheit harzt es mit den Bemühungen um die Abrüstung der Atomwaffen. Stattdessen werden die nuklearen Arsenale weltweit modernisiert.
Die Bedeutung von Atomwaffen wächst. Die politischen Konfrontationen zwischen Kernwaffenmächten nehmen zu. Allenthalben werden die nuklearen Arsenale erweitert und modernisiert. Zugleich fristet die Rüstungskontrolle, die für Amerikaner und Sowjets während des Kalten Krieges im Ringen um strategische Stabilität eine zentrale Rolle spielte, ein politisches Mauerblümchendasein. In der Konsequenz drohen Atomkriege wahrscheinlicher zu werden.
Russische Drohgebärden
Selbst nach dem Ende des Kalten Krieges behielten sich Moskau und Washington den nuklearen Ersteinsatz vor. Zugleich befand der frühere Pentagonchef Donald Rumsfeld, Rüstungskontrolle sei nichts für Freunde. Spätestens seit der russischen Annexion der Krim sind die USA und Russland jedoch keine Freunde mehr. Damit kehrt die nukleare Dimension ihrer gegenseitigen Beziehungen wieder auf die internationale Bühne zurück. Beide Seiten erneuern ihre Atomwaffenarsenale.
Russlands Präsident Wladimir Putin betonte darüber hinaus bei verschiedenen Gelegenheiten, dass sein Land eine der bedeutsamsten atomaren Mächte sei. In Militärmanövern wurde immer wieder der Einsatz von Kernwaffen geübt. Westliche Analytiker zeigen sich vor allem wegen Moskaus offensichtlicher Pläne besorgt, wonach taktische Nuklearwaffen in einem Konflikt mit der Nato, etwa um das Baltikum, bereits frühzeitig eingesetzt werden könnten.
Vor diesem Hintergrund hat auch innerhalb der Nato eine Debatte um eine womöglich notwendig gewordene Anpassung ihres nuklearen Dispositivs begonnen. Doch dies erfordert Einigkeit innerhalb der Allianz. Noch gibt es keine Mehrheit dafür, das gegenüber Moskau im Rahmen der Nato-Russland-Grundakte gegebene Versprechen aufzugeben, wonach das Bündnis keine Absichten habe, Kernwaffen auf dem Territorium neuer Mitgliedsländer zu stationieren.
Auch in Asien spitzen sich die Entwicklungen zu. China, das sich in nuklearen Belangen lange Zeit Zurückhaltung auferlegt hatte, verstärkt seine Kernwaffenmacht. Einerseits möchte es seine wachsende Rolle in der Welt auch militärisch untermauern. Andererseits zeigt man sich in Peking besorgt, Amerika könne Chinas verhältnismässig geringe Fähigkeit zum atomaren Zweitschlag mittels Raketenabwehr oder weitreichender konventioneller Mittel unterlaufen: Um dem entgegenzuwirken, rüstet Peking offenbar seine Atomraketen mit Mehrfachsprengköpfen aus und lässt zum ersten Mal ein mit ballistischen Raketen ausgerüstetes Atom-U-Boot auf Patrouille fahren. Zwar hält das Reich der Mitte an seinem Verzicht auf den Ersteinsatz von Kernwaffen fest, doch befinden sich seine Nuklearstreitkräfte in einer höheren Einsatzbereitschaft als noch vor wenigen Jahren.
Zum Teil aus Prestigegründen, zum Teil, um eine glaubwürdige nukleare Abschreckung gegenüber dem Nachbarn China zu erreichen, arbeitet Indien am Aufbau einer vollständigen nuklearen Triade, also Atomwaffen zu Lande, zu Wasser und in der Luft. Tendenziell verabschiedet sich Delhi damit von seiner langjährigen Doktrin einer nuklearen Minimalabschreckung und verwickelt sich zunehmend in Widersprüche: Was glaubwürdig ist gegenüber China, ist nicht minimal gegenüber Pakistan, und was minimal ist gegenüber Pakistan, ist nicht glaubwürdig gegenüber China. Das indisch-pakistanische Verhältnis gestaltet sich unter nuklearen Gesichtspunkten der Nuklearpolitik sehr problematisch. Anders als Delhi verzichtet Islamabad nicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen und weist taktischen Kernwaffen eine wichtige Rolle im Angesicht einer wachsenden indischen konventionellen Überlegenheit zu. Gefährlich könnte es auf dem indischen Subkontinent vor allem dann werden, sollten von Pakistan unterstützte grössere Terroranschläge auf indischem Boden stattfinden. Indien behält sich für solche Fälle einen Vormarsch mit konventionellen Kräften gegen Pakistan vor, das seinerseits in einer solchen Situation zu seiner Verteidigung auf taktische Nuklearwaffen zurückgreifen könnte.
Komplettiert wird das düstere Bild, das Asien derzeit in Sachen nuklearer Entwicklungen abgibt, durch Nordkorea. Nordkorea arbeitet weiter an der Vervollkommnung seiner Atomwaffen und Raketen und stellt mit seiner Politik am Rande des Abgrunds eine Gefahr für seine Nachbarschaft dar.
Unsicherheit am Golf
Vor diesem Hintergrund erscheint das Abkommen über das iranische Atomprogramm vom Juli 2015 geradezu als Leuchtturmprojekt. In der Tat sind damit Teheran für die kommenden zehn bis fünfzehn Jahre wichtige Beschränkungen auferlegt worden. Es ist wenig wahrscheinlich, dass das Land in dieser Zeit Atomwaffen baut. Jedoch bleibt die iranische nukleare Infrastruktur intakt; Iran darf sein Raketenprogramm ungehindert fortsetzen, und iranische Ingenieure verfügen vermutlich über genug Wissen zum Bau von Nuklearwaffen. Insofern bleibt Iran eine virtuelle Atommacht. Das Land könnte nach Auslauf des Abkommens seine nuklearen Fesseln lösen und zu seinen ursprünglichen Waffenplänen zurückkehren.
Kein Wunder ist es daher, dass Irans Hauptkonkurrent Saudiarabien sich – so die Ansicht vieler internationaler Beobachter – die Option eines eigenen Kernwaffenprogramms offenhält. Allerdings ist Riads nukleare Infrastruktur noch nicht weit gediehen, und es dürfte noch Jahre dauern, bis das Land die erforderlichen Fähigkeiten zum Bau von Atomwaffen entwickelt hat. Pakistan dürfte – anders, als dies gelegentlich vermutet wird – den Saudi in dieser Lage wohl kaum mit dem Verkauf oder der Stationierung seiner Atomwaffen in der saudischen Wüste zur Seite stehen. Denn dadurch würde Islamabad eine doppelte Konfrontation mit den Nachbarn Indien und Iran heraufbeschwören.
Besonders besorgniserregend ist, dass ungeachtet der sich zuspitzenden nuklearen Gefahren Rüstungskontrolle Mangelware bleibt. Der Grundsatz, wonach im Atomzeitalter die Sicherheitsinteressen des Gegenübers immer mitgedacht werden müssen, scheint in Vergessenheit geraten. Nur Amerika, das allen anderen Staaten konventionell massiv überlegen ist, hat Interesse an nuklearer Rüstungskontrolle. Russland sieht Kernwaffen als Grossmachtattribute, über die es nicht verhandeln, sondern die es zunächst einmal modernisieren will. Und alle anderen Atommächte verweisen darauf, dass sie sich erst bei der Rüstungskontrolle engagieren würden, wenn die USA und Russland, die nach wie vor über etwa 90 Prozent aller Nuklearwaffen verfügen, mit gutem Beispiel vorangingen.
Oliver Thränert leitet den Think-Tank am Center for Security Studies der ETH Zürich.
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