Russisches Zapad-ManöverWo das Baltikum wirklich verwundbar ist
Die Litauer blicken sorgenvoll auf das kommende Herbstmanöver des russischen Militärs. Es könnte die Lage in der Region weiter verschärfen. Die Nato antwortet auf ihre Weise.
25.06.2017, von THOMAS GUTSCHKER
Am vergangenen Wochenende haben Nato-Einheiten das Suwalki Gap befreit. So nennen Militärs die „Lücke“, die schmale Landverbindung zwischen Polen und Litauen, hundert Kilometer breit. Hunderte Royal Marines, polnische und amerikanische Infanteristen wurden in der Abenddämmerung mit Transporthubschraubern abgesetzt. Sie sammelten sich in einem Waldstück im östlichen Teil des Korridors, schon auf litauischer Seite. Am Morgen griffen sie dann an drei Stellen den Gegner an, der eine strategisch bedeutsame Achse in die Hauptstadt Vilnius unter seine Kontrolle gebracht hatte. Nach ein paar Stunden eroberte die Nato-Truppe die Straße zurück. Danach rückten amerikanische und polnische Panzer vor, um die multinationalen Streitkräfte in der Nähe zu verstärken.
Okay, es war nur eine Übung, kein Ernstfall. Der Gegner wurde von litauischen Soldaten verkörpert, ein fiktiver Staat namens „Bothnia“. Mit dem bekommen es Nato-Soldaten in den letzten Jahren regelmäßig zu tun, wenn sie die Verteidigung ihres Bündnisgebiets üben. Kein Wunder, denn „Bothnia“ liegt gemäß Schulungsunterlagen der Allianz an der Ostsee, ist eine „nicht reformierte, altmodische Volksrepublik, mit einem Anschein demokratischer Repräsentation“, zugleich aber „bedeutsamen militärischen Fähigkeiten“ und dem „politischen Willen, den Einsatz militärischer Macht zu erwägen, um seine Ziele zu erreichen“. Schon klar, wer gemeint ist – Russland natürlich.
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Hochgerüstet mit Luftabwehr, Raketen und Panzern
Nun wird Wladimir Putin nachts nicht wach liegen, weil tausend Nato-Soldaten gezeigt haben, wie sie einen winzigen Teil ihres eigenen Territoriums zurückerobern. Die „Bothnier“ waren den Befreiern hoffnungslos unterlegen – wie stets bei Nato-Manövern. In der realen Welt wäre es eher umgekehrt. Russland hat Zehntausende Soldaten in Kaliningrad und in seinem westlichen Militärbezirk stationiert, es ist hochgerüstet mit Luftabwehr, Artillerie, Raketen und Panzern. Kein Vergleich mit den drei baltischen Staaten, die ihre Streitkräfte nach der Unabhängigkeit von null an aufbauen mussten und weder Kampfflugzeuge noch schwere Panzer besitzen.
Sorgen machen sich deshalb schon eher die Litauer. Sie sind eingeklemmt zwischen der russischen Exklave Kaliningrad, dem früheren Königsberg, und Weißrussland, Russlands engstem Verbündeten. Ihre Hauptstadt Vilnius liegt direkt an der Grenze. Und Mitte September steht wieder ein gewaltiges Manöver auf der anderen Seite an: die Übung „Zapad“, russisch für „Westen“, in die der gesamte westliche Militärbezirk Russlands einbezogen ist, zusammen um die 100.000 Soldaten. Soweit bekannt, sollen die Russen diesmal das von der Nato besetzte Weißrussland freikämpfen. Die litauische Regierung glaubt, dass die ganze Übung in Wahrheit eine Invasion des Baltikums simuliert. Dalia Grybauskaite, die Staatspräsidentin, spricht von einem „aggressiven und offensiven Manöver gegen den Westen“.
Man sollte das nicht als Paranoia abtun, denn auch andere machen sich Sorgen. Ben Hodges zum Beispiel, der Oberkommandierende der amerikanischen Landstreitkräfte in Europa. Der Drei-Sterne-General warnte gerade erst, dass es zu Grenzverletzungen kommen könnte oder Russland Truppen in Weißrussland belassen könnte – was die Lage in der Region verschärfen würde. Die Russen hätten schon zweimal im Schatten großer Manöver echte Vorstöße unternommen, 2008 in Georgien und 2014 in der Ukraine. „Ihre Geschichte ist voll mit Beispielen dafür, dass sie sich nicht an Verträge halten“, sagte Hodges. Dachte der General nur laut nach oder hatte er Hinweise auf russische Planungen?
Bei der Nato ist angeblich nichts darüber bekannt; in solchen Fällen ist das Bündnis darauf angewiesen, dass Mitglieder ihre Aufklärungsergebnisse mit ihm teilen. Auf jeden Fall nehmen Nato-Fachleute die Zapad-Manöver sehr ernst. Alle vier Jahre finden sie statt. Im Jahr 2009 simulierten die Russen einen Angriff mit Nuklearraketen auf Warschau. Es schien so, als betrachte Russland Atomwaffen plötzlich als Teil eines konventionellen Krieges. 2013 wurde nach westlicher Überzeugung die Eroberung des Baltikums geübt. Im Nachhinein sah es so aus, als wurde sogar schon die Invasion auf der Krim mit irregulären Truppen in diesem Rahmen durchgespielt.
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Diesmal rechnen Fachleute damit, dass Russen und Weißrussen die Einnahme des Suwalki Gap erproben. Der schmale Korridor wird von Nato-Militärplanern als größter geographischer Schwachpunkt in der Region gesehen – vergleichbar mit dem Fulda Gap im Kalten Krieg. Dort, im eher flachen Gelände, würden die sowjetischen Panzerverbände nach Westdeutschland vorstoßen, vermuteten Strategen damals.
An der Grenze zwischen Polen und Litauen besteht eine andere Gefahr: dass die Balten vom Rest der Allianz abgeschnürt werden. Wenn die Russen diesen schmalen Streifen kontrollieren, könnten sie außerdem Kaliningrad direkt auf dem Landweg versorgen. Für die Nato würde es dann sehr schwierig, Truppen und Nachschub nach Norden zu bringen. Denn zur See bieten die Russen etwa sechzig Kriegsschiffe auf, die in Kaliningrad liegen. Und den Luftraum über dem südlichen Baltikum können sie mit ihrer mobilen Luftverteidigung von der Exklave aus faktisch sperren. Noch kennt die Allianz kein gutes Mittel dagegen.
Inzwischen sind alle vier Battle Groups einsatzbereit
Es ist deshalb kein Zufall, dass die Nato ausgerechnet jetzt, wenige Wochen vor dem Zapad-Manöver, an dieser Stelle übt. Und es ist erst recht kein Zufall, dass sie zwei ihrer sogenannten Battle Groups auf beiden Seiten des Suwalki Gap stationiert hat. Diese Kampfverbände sind die jüngste Errungenschaft der Nato, ihre ersten größeren Einheiten auf dem Gebiet des früheren Warschauer Pakts – jeweils gut tausend Mann. Beschlossen wurde diese „verstärkte Vorne-Präsenz“ auf dem Gipfeltreffen in Warschau vor einem Jahr, ausdrücklich als Reaktion auf die russische Aggression gegenüber der Ukraine. Da sah die Allianz tatenlos zu; ihre eigenen Mitglieder muss sie dagegen schützen.
Inzwischen sind alle vier Battle Groups einsatzbereit. Am Montag wurden die Kanadier in Lettland willkommen geheißen. Soldaten aus sechs Nationen marschierten über den Exerzierplatz, ein Musikkorps schmetterte die Hymnen, am Himmel kreischten Möwen dazu. Auf der Zuschauertribüne saß die Führung des Landes. In Reden wurde die Bündnissolidarität beschworen. Alles wie üblich – und auch wieder nicht. Schließlich liegt über der Allianz eine dunkle Wolke in Gestalt von Donald Trump.
Zwar hat sich der amerikanische Präsident inzwischen zum Artikel fünf des Nato-Vertrags bekannt, jedoch erst auf Nachfrage. Als er Ende Mai das neue Hauptquartier in Brüssel eröffnete, hatte er ein solches Bekenntnis noch aus seinem Redetext gestrichen. Das ließ viele Nato-Mitglieder erschaudern, auch die Balten. Denn was nutzen all die Soldaten am Boden, wenn der politische Wille fehlt, sie einzusetzen?
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Fast trotzig versuchten die Redner in Adazi, die dunkle Wolke über dem Bündnis zu vertreiben. „Das ist ein mächtiges Zeichen der Solidarität. Es demonstriert die Entschlossenheit der Nato, jeden unserer Mitgliedstaaten zu verteidigen“, sagte der lettische Präsident Raimonds Vejonis. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, aus Brüssel angereist, formulierte es so: „Unsere Allianz steht wie ein Mann: Ein Angriff auf einen wird wie ein Angriff auf alle gewertet.“ Auch der kanadische Verteidigungsminister Harjit Sajjan fand deutliche Worte: „Wir sind überzeugt davon, dass die regelbasierte internationale Ordnung bewahrt werden muss.“ Von gemeinsamen Werten sprach er, der Sikh mit Kampferfahrung in Afghanistan, vom Wert multilateraler Bündnisse und vom Willen, sich weltweit zu engagieren – das Gegenprogramm zu Trump.
Für die Battle Groups ist die Bündnissolidarität entscheidend. Viermal tausend Mann, das ist keine beeindruckende Streitmacht. Die Nato betrachtet die Einheiten trotzdem als Beitrag zur Abschreckung. Schließlich würde ein russischer Angriff die an einer Battle Group beteiligten Staaten direkt treffen – und eine gemeinsame militärische Antwort wahrscheinlicher machen. Wenn unter diesen Staaten dann auch noch Atommächte sind, würde Moskau sogar das Risiko einer nuklearen Eskalation eingehen.
Im Nato-Hauptquartier hätten es manche deshalb gerne gesehen, wenn die Amerikaner in jeder Battle Group mit einer Kompanie vertreten gewesen wären, als eine Art Lebensversicherung. So ist es nicht gekommen, sie sind nur in Polen direkt beteiligt, steuern aber zu Manövern in den anderen Staaten weitere Kontingente bei. In Estland stehen mit Briten und Franzosen zwei weitere Atommächte; in Litauen erwarten die Deutschen französische Verstärkung. „Wir glauben, dass Putin diese Botschaft versteht“, sagt ein Nato-Planer.
Litauischer Minister wünscht sich größere Nato-Präsenz
Die Bilder von der Begrüßungszeremonie in Lettland und vom Manöver am Suwalki Gap sind dagegen mehr für das heimische Publikum gedacht: als Rückversicherung. Die Panzer, die am Wochenende die „eroberte“ Straße nach Vilnius passierten, wurden zwei Tage später noch einmal der Öffentlichkeit vorgeführt. Sie rollten über eine Schwimmbrücke. Großes Spektakel. Auf der Zuschauertribüne saßen der Nato-Generalsekretär, die litauische Präsidentin, mehrere Verteidigungsminister, Botschafter und viele Militärs mit goldenen Schulterklappen. Jeder der politischen Gäste kam mit einer Wagenkolonne, die noch ein wenig länger war als die Schwimmbrücke. Die Amerikaner ließen Apache-Hubschruber über dem Fluss kreisen, ein Kampfflugzeug donnerte über die Köpfe hinweg.
Raimundas Karoblis, der litauische Verteidigungsminister, war allerdings nur mittelmäßig beeindruckt. Der Mann von bulliger Statur stand nach der Vorführung auf einem Stoppelacker und kräuselte die Stirn. „Wir würden gerne eine noch größere Präsenz von Nato-Truppen sehen“, sagte er uns, „mindestens eine Brigade pro Land.“ Eine Brigade, das wären drei- bis fünftausend Mann. Man verstehe zwar, dass einige Mitglieder Bedenken hätten, weil sie Russland nicht provozieren wollten.
„Aber wir sehen das anders: Die russischen Fähigkeiten sind so viel größer!“ Dass Moskau inzwischen noch mehr Einheiten an der Grenze zum Baltikum zusammengezogen hat, wollte Karoblis nicht als Antwort auf die Battle Groups werten. „Die Russen hätten das sowieso gemacht“, sagte er – das sehen wiederum bei der Nato einige anders. Für die nähere Zukunft wünschte sich Karoblis eine Luftverteidigung der Allianz, mehr Aufklärung und „Lösungen“ gegen die russischen Fähigkeiten, das Baltikum zu blockieren.
Amerikaner erhöhen ihre Truppenpräsenz in Europa
In einem hat der Minister recht: Die Battle Groups mögen zwar abschrecken, allerdings würden sie eine russische Blitz-Invasion nicht aufhalten können. Ranghohe Militärs der amerikanischen Streitkräfte und der Nato haben einen solchen Angriff am grünen Tisch durchgespielt. Das Ergebnis wurde Anfang 2016 von der Rand Corporation, einer amerikanischen Denkfabrik, veröffentlicht. Die bittere Erkenntnis: Russische Truppen standen nach 36 bis 60 Stunden vor den Toren von Tallinn und Riga. Die Streitkräfte dieser Länder waren von der russischen Feuerkraft zermalmt worden und konnten allenfalls noch einen verlustreichen Kampf um ihre Hauptstädte führen. Die Nato hätte das Baltikum mit riesigem Aufwand zurückerobern müssen – stets verbunden mit der Gefahr, dass Moskau selbst Nuklearwaffen einsetzt.
Die Fachleute empfahlen der Nato eine viel größere Präsenz in der Region, um Russland wirksam abzuschrecken: sieben Brigaden, davon drei mit Kampfpanzern. Die Einheiten müssten binnen einer Woche einsatzfähig sein. So viele Kräfte kann die Allianz freilich nicht aufbieten, von politischen Erwägungen ganz abgesehen. Schon die Suche nach Führungsnationen in den Battle Groups war äußerst schwierig, weshalb zwei von nichteuropäischen Mitgliedstaaten geführt werden. Die Europäer haben immerhin eine schnell verlegbare „Speerspitze“ in Brigadestärke aufgebaut.
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Und die Amerikaner sind dabei, ihre Truppenpräsenz in Europa wieder zu erhöhen. Eine dritte Panzerbrigade wird gerade zurückverlegt; ihr Hauptquartier ist erstmals in Polen, die Einheiten beteiligen sich an den vielen Übungen in der Region. Ebenso hält es eine zusätzliche Heeresfliegerbrigade mit Heimatbasis in Deutschland. Außerdem bringen die Amerikaner die Ausrüstung für eine vierte Panzerbrigade nach Deutschland, Belgien und in die Niederlande; die Soldaten müssten dann im Konfliktfall noch eingeflogen werden.
Alles in allem wird so etwa die Hälfte der Rand-Forderungen erfüllt. Die Amerikaner lassen sich ihre „Europäische Rückversicherungsinitiative“ allein in diesem Jahr 4,8 Milliarden Dollar kosten, eine gewaltige Summe. Trump hat die Mittel gerade um 40 Prozent erhöht. Darauf weist der Nato-Generalsekretär hin, wenn man ihn nach der schwankenden Haltung des amerikanischen Präsidenten zur Bündnissolidarität fragt. „Taten sagen mehr als Worte“, antwortet Jens Stoltenberg, „die amerikanische Präsenz in Europa ist das stärkste Engagement für Artikel fünf.“
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