Bundesverfassungsgericht - Pressestelle -
Pressemitteilung Nr. 9/2014 vom 7. Februar 2014
Beschlüsse vom 17. Dezember 2013 und 14. Januar 2014
2 BvR 1390/12 (teilweise abgetrennt als 2 BvR 2728/13)
2 BvR 1421/12 (teilweise abgetrennt als 2 BvR 2729/13)
2 BvR 1438/12 (teilweise abgetrennt als 2 BvR 2730/13)
2 BvR 1439/12
2 BvR 1440/12
2 BvR 1824/12 (teilweise abgetrennt als 2 BvR 2731/13)
2 BvE 6/12 (teilweise abgetrennt als 2 BvE 13/13)
Hauptsacheverfahren ESM/EZB: Urteilsverkündung sowie
Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union
Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts wird auf Grundlage der
mündlichen Verhandlung vom 11. und 12. Juni 2013 (siehe Pressemitteilungen
Nr. 29/2013 vom 19. April 2013 und Nr. 36/2013 vom 14. Mai 2013) am
Dienstag, 18. März 2014, 10.00 Uhr,
im Sitzungssaal des Bundesverfassungsgerichts,
Amtssitz „Waldstadt“, Rintheimer Querallee 11, 76131 Karlsruhe
sein Urteil zu den Verfahrensgegenständen im Zusammenhang mit der
Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) und mit dem
Vertrag vom 2. März 2012 über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in
der Wirtschafts- und Währungsunion (Fiskalpakt) verkünden. Die
Akkreditierungsbedingungen werden zu einem späteren Zeitpunkt bekannt
gegeben; derzeit sind noch keine Akkreditierungen möglich.
Die Verfahrensgegenstände, die sich auf den OMT-Beschluss des Rates der
Europäischen Zentralbank vom 6. September 2012 beziehen, hat der Senat
abgetrennt, diese Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof der
Europäischen Union mehrere Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt.
Gegenstand der Vorlagefragen ist insbesondere, ob der OMT-Beschluss mit
dem Primärrecht der Europäischen Union vereinbar ist. Nach Auffassung
des Senats sprechen gewichtige Gründe dafür, dass er über das Mandat der
Europäischen Zentralbank für die Währungspolitik hinausgeht und damit in
die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten übergreift sowie gegen das Verbot
monetärer Haushaltsfinanzierung verstößt. Der Senat neigt deshalb zur
Annahme eines Ultra-vires-Aktes, hält es aber für möglich, durch eine
einschränkende Auslegung des OMT-Beschlusses im Lichte der Verträge zu
einer Konformität mit dem Primärrecht zu gelangen. Die Entscheidung ist
mit 6:2 Stimmen ergangen; die Richterin Lübbe-Wolff und der Richter
Gerhardt haben jeweils ein Sondervotum abgegeben.
Zum Sachverhalt:
Die Beschwerdeführer der Verfassungsbeschwerden und die Antragstellerin
des Organstreitverfahrens wenden sich bei verständiger Würdigung ihrer
Anträge zum einen gegen die Mitwirkung der Deutschen Bundesbank an der
Umsetzung des Beschlusses des Rates der Europäischen Zentralbank vom 6.
September 2012 über Technical features of Outright Monetary Transactions
(„OMT-Beschluss“), zum anderen dagegen, dass die Bundesregierung und der
Deutsche Bundestag in Ansehung dieses Beschlusses untätig geblieben
sind. Im OMT-Beschluss ist vorgesehen, dass das Europäische System der
Zentralbanken Staatsanleihen ausgewählter Mitgliedstaaten in
unbegrenzter Höhe ankaufen kann, wenn und solange diese Mitgliedstaaten
zugleich an einem mit der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität
(EFSF) oder dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) vereinbarten
Reformprogramm teilnehmen. Erklärtes Ziel ist die Sicherstellung einer
ordnungsgemäßen geldpolitischen Transmission und der Einheitlichkeit der
Geldpolitik. Der OMT-Beschluss ist bislang nicht umgesetzt worden.
Wesentliche Erwägungen des Senats:
1. Die Kontrollaufgabe des Bundesverfassungsgerichts erstreckt sich nach
ständiger Rechtsprechung darauf, ob Handlungen von Organen und
Einrichtungen der Europäischen Union auf ersichtlichen
Kompetenzüberschreitungen beruhen oder den nicht übertragbaren Bereich
der durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Verfassungsidentität des
Grundgesetzes betreffen.
2. Verstieße der OMT-Beschluss gegen das währungspolitische Mandat der
Europäischen Zentralbank oder gegen das Verbot monetärer
Haushaltsfinanzierung, läge darin ein Ultra-vires-Akt.
a) Nach der Honeywell-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
(BVerfGE 126, 286) ist dazu ein hinreichend qualifizierter Verstoß
erforderlich. Dieser setzt voraus, dass das kompetenzwidrige Handeln der
Unionsgewalt offensichtlich ist und der angegriffene Akt im
Kompetenzgefüge zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung zulasten
der Mitgliedstaaten führt.
b) Die Verträge enthalten ein auf die Währungspolitik beschränktes
Mandat der Europäischen Zentralbank (Art. 119 und 127 ff. AEUV und Art.
17 ff. ESZB-Satzung). Sie ist nicht zu einer eigenständigen
Wirtschaftspolitik ermächtigt, sondern darauf beschränkt, die
Wirtschaftspolitik in der Union zu unterstützen (Art. 119 Abs. 2, Art.
127 Abs. 1 Satz 2 AEUV; Art. 2 Satz 2 ESZB-Satzung). Geht man -
vorbehaltlich der Auslegung durch den Gerichtshof der Europäischen Union
- davon aus, dass der OMT-Beschluss als eigenständige
wirtschaftspolitische Maßnahme zu qualifizieren ist, so verstößt er
offensichtlich gegen diese Kompetenzverteilung. Diese
Kompetenzverschiebung wäre auch strukturell bedeutsam, denn der
OMT-Beschluss kann Hilfsmaßnahmen im Rahmen der „Eurorettungspolitik“
überlagern, die zum Kernbereich der wirtschaftspolitischen Kompetenz der
Mitgliedstaaten rechnen (vgl. Art. 136 Abs. 3 AEUV). Zudem können die
Outright Monetary Transactions zu einer erheblichen Umverteilung
zwischen den Mitgliedstaaten führen und damit Züge eines
Finanzausgleichs annehmen, den die europäischen Verträge nicht vorsehen.
c) Auch soweit der OMT-Beschluss gegen das Verbot monetärer
Haushaltsfinanzierung (Art. 123 Abs. 1 AEUV) verstoßen sollte, läge
darin eine offensichtliche und strukturell bedeutsame
Kompetenzüberschreitung. Der Verstoß wäre offensichtlich, weil das
Primärrecht das Verbot ausdrücklich normiert und Kompetenzen der
Europäischen Zentralbank insoweit zweifelsfrei ausschließt. Er wäre auch
strukturell bedeutsam, denn das Verbot monetärer Haushaltsfinanzierung
ist eine der zentralen Regeln für die Ausgestaltung der Währungsunion
als Stabilitätsunion. Zudem sichert es die haushaltspolitische
Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages ab.
3. Die Bejahung eines Ultra-vires-Aktes in diesem Sinne löste
Unterlassungs- und Handlungspflichten deutscher Staatsorgane aus. Diese
sind vor dem Bundesverfassungsgericht jedenfalls insoweit einklagbar,
als sie sich auf Verfassungsorgane beziehen.
a) Aus der Integrationsverantwortung erwächst für den Bundestag und die
Bundesregierung die Pflicht, über die Einhaltung des
Integrationsprogramms zu wachen und bei offensichtlichen und strukturell
bedeutsamen Kompetenzüberschreitungen durch Organe der Europäischen
Union aktiv auf die Einhaltung des Integrationsprogramms hinzuwirken.
Eine Kompetenzanmaßung können sie nachträglich legitimieren, indem sie
eine Änderung des Primärrechts anstoßen und die in Anspruch genommenen
Hoheitsrechte im Verfahren nach Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und 3 GG förmlich
übertragen. Soweit dies nicht möglich oder nicht gewollt ist, sind sie
dagegen grundsätzlich verpflichtet, im Rahmen ihrer jeweiligen
Kompetenzen mit rechtlichen oder mit politischen Mitteln auf die
Aufhebung vom Integrationsprogramm nicht gedeckter Maßnahmen hinzuwirken
sowie - solange die Maßnahmen fortwirken - geeignete Vorkehrungen dafür
zu treffen, dass die innerstaatlichen Auswirkungen der Maßnahmen so weit
wie möglich begrenzt bleiben. b) Ein Verstoß gegen diese Pflichten
verletzt subjektive, mit der Verfassungsbeschwerde rügefähige Rechte der
Wahlberechtigten. Nach gefestigter Rechtsprechung des Senats ist Art. 38
Abs. 1 Satz 1 GG verletzt, wenn das Wahlrecht in einem für die
politische Selbstbestimmung des Volkes wesentlichen Bereich leerzulaufen
droht. Dagegen gewährt Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG keinen Anspruch auf eine
Rechtmäßigkeitskontrolle demokratischer Mehrheitsentscheidungen durch
das Bundesverfassungsgericht.
Gegenüber offensichtlichen und strukturell bedeutsamen
Kompetenzüberschreitungen durch die europäischen Organe hat der Schutz
aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG auch eine verfahrensmäßige Komponente: Der
wahlberechtigte Bürger hat zur Sicherung seiner demokratischen
Einflussmöglichkeit im Prozess der europäischen Integration
grundsätzlich ein Recht darauf, dass eine Verlagerung von Hoheitsrechten
nur in den dafür vorgesehenen Formen erfolgt, die bei einer
eigenmächtigen Kompetenzanmaßung jedoch unterlaufen werden. Der Bürger
kann deshalb verlangen, dass Bundestag und Bundesregierung sich aktiv
mit der Frage auseinandersetzen, wie die Kompetenzordnung
wiederhergestellt werden kann, und eine positive Entscheidung darüber
herbeiführen, welche Wege dafür beschritten werden sollen. Ein
Ultra-vires-Akt kann ferner Gegenstand eines Organstreits sein.
4. Vorbehaltlich der Auslegung durch den Gerichtshof der Europäischen
Union ist der OMT-Beschluss nach Einschätzung des
Bundesverfassungsgerichts mit dem Primärrecht unvereinbar; eine andere
Beurteilung könnte allerdings bei einer primärrechtskonformen Auslegung
des OMT-Beschluss geboten sein.
a) Der OMT-Beschluss dürfte nicht vom Mandat der Europäischen
Zentralbank gedeckt sein. Die Währungspolitik ist nach Wortlaut,
Systematik und Zielsetzung der Verträge insbesondere von der primär den
Mitgliedstaaten zustehenden Wirtschaftspolitik abzugrenzen. Für die
Abgrenzung kommt es auf die objektiv zu bestimmende unmittelbare
Zielsetzung einer Maßnahme, die zur Erreichung dieses Ziels gewählten
Mittel sowie ihre Verbindung zu anderen Regelungen an. Für die
Einordnung des OMT-Beschlusses als wirtschaftspolitische Maßnahme
spricht die unmittelbare Zielsetzung, Zinsaufschläge auf Staatsanleihen
einzelner Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebietes zu neutralisieren.
Diese beruhen nach Auffassung der Europäischen Zentralbank teilweise auf
einer Furcht der Anleger vor einer Reversibilität des Euro; nach Ansicht
der Bundesbank spiegeln solche Zinsaufschläge dagegen nur die Skepsis
der Marktteilnehmer wider, dass einzelne Mitgliedstaaten eine
hinreichende Haushaltsdisziplin einhalten werden, um dauerhaft
zahlungsfähig zu bleiben. Auch der selektive Ankauf von Staatsanleihen
nur einzelner Mitgliedstaaten ist ein Indiz für die Qualifikation des
OMT-Beschlusses als wirtschaftspolitische Maßnahme, denn dem
geldpolitischen Handlungsrahmen des Europäischen Systems der
Zentralbanken ist eine zwischen einzelnen Mitgliedstaaten
differenzierende Vorgehensweise grundsätzlich fremd. Die Parallelität
mit Hilfsprogrammen der EFSF bzw. des ESM sowie das Risiko, deren
Zielsetzung und Auflagen zu unterlaufen, erhärten diesen Befund. Der vom
OMT-Beschluss vorgesehene Ankauf von Staatsanleihen zur Entlastung
einzelner Mitgliedstaaten erscheint insoweit als funktionales Äquivalent
zu einer Hilfsmaßnahme der genannten Institutionen - allerdings ohne
deren parlamentarische Legitimation und Kontrolle.
b) Art. 123 Abs. 1 AEUV verbietet der Europäischen Zentralbank,
Staatsanleihen unmittelbar von den emittierenden Mitgliedstaaten zu
erwerben. Es liegt auf der Hand, dass dieses Verbot nicht durch
funktional äquivalente Maßnahmen umgangen werden darf. Die genannten
Gesichtspunkte der Neutralisierung von Zinsaufschlägen, der Selektivität
des Ankaufs sowie der Parallelität mit EFSF- und ESM-Hilfsprogrammen
sprechen dafür, dass der OMT-Beschluss auf eine verbotene Umgehung von
Art. 123 Abs. 1 AEUV zielt. Hinzu kommen folgende Aspekte: die
Bereitschaft, sich mit Blick auf die zu erwerbenden Anleihen an einem
Schuldenschnitt zu beteiligen; das erhöhte Risiko; die Möglichkeit, die
erworbenen Staatsanleihen bis zur Endfälligkeit zu halten; der Eingriff
in die Preisbildung am Markt und die vom EZB-Rat ausgehende Ermutigung
der Marktteilnehmer zum Erwerb der in Rede stehenden Anleihen am
Primärmarkt.
c) Die von der Europäischen Zentralbank zur Rechtfertigung des
OMT-Beschlusses angeführte Zielsetzung, eine Störung des geldpolitischen
Transmissionsmechanismus zu beheben, vermag hieran nach Ansicht des
Bundesverfassungsgerichts nichts zu ändern. Dass der Ankauf von
Staatsanleihen unter Umständen auch zur Erreichung währungspolitischer
Zielsetzungen beitragen kann, macht den OMT-Beschluss als solchen noch
nicht zu einer währungspolitischen Maßnahme. Würde man den Kauf von
Staatsanleihen bei jeder Störung des geldpolitischen
Transmissionsmechanismus zulassen, käme dies einer Befugnis der
Europäischen Zentralbank gleich, jede Verschlechterung der Bonität eines
Euro-Mitgliedstaates durch den Kauf von Staatsanleihen dieses Staates
beheben zu dürfen. Dies würde das Verbot monetärer Haushaltsfinanzierung
weitgehend außer Kraft setzen.
d) Der OMT-Beschluss wäre aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts jedoch
möglicherweise dann nicht zu beanstanden, wenn er primärrechtskonform so
ausgelegt oder in seiner Gültigkeit beschränkt würde, dass er die
Konditionalität der Hilfsprogramme von EFSF und ESM nicht unterläuft und
tatsächlich einen die Wirtschaftspolitik in der Union nur
unterstützenden Charakter behält. Mit Blick auf Art. 123 Abs. 1 AEUV
setzte dies wohl voraus, dass die Inkaufnahme eines Schuldenschnitts
ausgeschlossen werden müsste, Staatsanleihen einzelner Mitgliedstaaten
nicht in unbegrenzter Höhe angekauft werden und Eingriffe in die
Preisbildung am Markt soweit wie möglich vermieden werden. In der
mündlichen Verhandlung und in dem Verfahren vor dem Senat abgegebene
Erklärungen der Vertreter der Europäischen Zentralbank deuten darauf
hin, dass eine solche primärrechtskonforme Auslegung mit Sinn und Zweck
des OMT-Beschlusses durchaus noch vereinbar sein dürfte.
5. Ob der OMT-Beschluss und sein Vollzug auch die Verfassungsidentität
des Grundgesetzes verletzen können, ist derzeit nicht sicher absehbar
und hängt nicht zuletzt von Inhalt und Reichweite des -
primärrechtskonform ausgelegten - OMT-Beschlusses ab.
Abweichende Meinung der Richterin Lübbe-Wolff:
In dem Bemühen, die Herrschaft des Rechts zu sichern, kann ein Gericht
die Grenzen richterlicher Kompetenz überschreiten. Das ist meiner
Meinung nach hier geschehen. Die Anträge hätten als unzulässig
abgewiesen werden müssen. Die Frage, wie Bundestag und Bundesregierung
auf eine Verletzung von Souveränitätsrechten der Bundesrepublik
Deutschland, sei sie kriegerischer oder nicht kriegerischer Art, zu
reagieren haben, ist nicht sinnvoll im Sinne der Auferlegung bestimmter
positiver Handlungspflichten verregelbar. Die Auswahl zwischen den
vielfältigen Möglichkeiten der Reaktion, die von bloßen
Missfallensbekundungen bis hin zum Austritt aus der Währungsgemeinschaft
reichen, kann nur Sache des politischen Ermessens sein. Es verwundert
deshalb nicht, dass sich diesbezügliche Regeln weder dem Verfassungstext
noch der Rechtsprechungstradition entnehmen lassen.
Die Annahme, dass unter näher bestimmten Voraussetzungen nicht nur
positiv-souveränitäts-beschränkende Akte deutscher Bundesorgane, sondern
auch eine bloße Untätigkeit bei qualifizierten Übergriffen der Union
unter Berufung auf Art. 38 Abs. 1 GG angegriffen werden können, weicht
von erst jüngst bekräftigter Rechtsprechung ab, nach der ein Unterlassen
von Bundestag oder Bundesregierung mit der Verfassungsbeschwerde nur
gerügt werden kann, wenn sich der Beschwerdeführer auf einen
ausdrücklichen Auftrag des Grundgesetzes berufen kann, der Inhalt und
Umfang der als verletzt behaupteten Handlungspflicht im Wesentlichen
umgrenzt. Auch für Anträge im Organstreitverfahren hat der Senat noch
kürzlich festgestellt, dass sie nur gegen ein konkretes Unterlassen
zulässig sind, das heißt gegen das Unterlassen einer konkreten als
geboten darstellbaren Handlung. Die Annahme, dass unter anderem ein
bloßes Unterlassen der Bundesregierung, sich auf der Ebene der Union in
bestimmter Weise zu verhalten, zulässiger Gegenstand einer
Verfassungsbeschwerde sein kann, stünde zudem in Gegensatz dazu, dass
selbst positive Mitwirkungshandlungen der Bundesregierung an Beschlüssen
von Organen der Union oder intergouvernementalen Beschlüssen in
Angelegenheiten der Union noch vor kurzem zu untauglichen
Angriffsgegenständen erklärt worden sind.
Abweichende Meinung des Richters Gerhardt:
Ich halte die Verfassungsbeschwerden und den Antrag im
Organstreitverfahren, soweit sie den OMT-Beschluss betreffen, für
unzulässig. Der vorliegende Beschluss erweitert die Möglichkeit des
Einzelnen, über Art. 38 Abs. 1 GG - ohne Rückanbindung an ein
materielles Grundrecht - eine verfassungsgerichtliche Kontrolle in Bezug
auf Akte von Unionsorganen zu initiieren. Mit der Zulassung einer
solchen Ultra-vires-Kontrolle wird die Tür zu einem allgemeinen
Gesetzesvollziehungsanspruch geöffnet, den das Grundgesetz nicht kennt.
Die Integrationsverantwortung der deutschen Verfassungsorgane besteht
gegenüber der Allgemeinheit, und aus ihr folgt nichts für die
Konstruktion eines subjektiven Rechts eines jeden Wahlberechtigten auf
Tätigwerden von Verfassungsorganen. Bundesregierung und Bundestag muss
bezüglich der Frage, ob ein qualifizierter Ultra-vires-Akt vorliegt, ein
vom Bürger hinzunehmender Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum
zukommen. Der Beschluss geht davon aus, dass eine
Kompetenzüberschreitung auch dann offensichtlich sein kann, wenn dem ein
längerer Klärungsprozess vorausgeht. Wie schwierig das Kriterium der
Offensichtlichkeit zu handhaben ist, zeigt der Fall überdeutlich.
Währungs- und Wirtschaftspolitik sind aufeinander bezogen und können
nicht strikt unterschieden werden. In der Gesamtschau erscheint mir das
Vorbringen, es gehe in erster Linie um die Wiederherstellung des
monetären Transmissionsmechanismus, nicht mit der zu fordernden
Eindeutigkeit widerlegbar.
Dass der Einzelne das Selbstbefassungsrecht des Bundestags mit Hilfe des
Bundesverfassungsgerichts in eine bestimmte Richtung lenken kann, fügt
sich nicht in die grundgesetzlichen Rahmenbedingungen parlamentarischer
Arbeit. Der Bürger kann mittels Eingaben, über die Parteien und
Abgeordneten sowie insbesondere über die Medien auf Art und Ziel der
politischen Willensbildung Einfluss nehmen. Der Bundestag hätte ohne
weiteres auf politischem Wege den OMT-Beschluss missbilligen,
gegebenenfalls auch eine Nichtigkeitsklage androhen, die Reaktion der
Europäischen Zentralbank und der Finanzmärkte abwarten und dann weitere
Konsequenzen ziehen können. Dass er all dies nicht getan hat, indiziert
kein Demokratiedefizit, sondern ist Ausdruck einer Mehrheitsentscheidung
für eine bestimmte Politik zur Bewältigung der Staatsschuldenkrise im
Euro-Währungsraum.
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