US-Starökonom im Interview
«Die SNB hatte im Januar keine andere Wahl»
Kenneth Rogoff verteidigt die Aufgabe des Mindestkurses durch die Schweizerische Nationalbank. Um eine Rezession zu verhindern, könne sie die Negativzinsen weiter senken. Für Griechenland skizziert er eine drastische Massnahme, um einen Abschied aus der Euro-Zone zu verhindern.
NZZ am Sonntag: Seit fünf Jahren läuft der Versuch, Griechenland zu retten, aber es geht dem Land schlechter als zuvor. Warum?
Kenneth Rogoff: Griechenland erlebt eine epische Depression. Von 1995 bis 2009 war das Pro-Kopf-Bruttoinlandprodukt von 41% auf 71% des deutschen Werts gestiegen, um dann bis 2014 wieder auf 57% abzustürzen. Es wäre aber falsch, dafür die Gläubiger verantwortlich zu machen.
Genau das ist aber oft zu hören: Die Sparauflagen seien zu hart.
Fast jeder denkt, Athen spare, um Schulden zurückzuzahlen. Das ist völlig falsch. Bis zur zweiten Jahreshälfte 2014 hat Griechenland netto Geld von den Gläubigern erhalten. Erst in den letzten zwölf Monaten gab es gewisse Rückzahlungen.
Was ist dann schiefgegangen?
Die Probleme sind alt. In den ersten Jahren nach der Jahrtausendwende hat sich das Land heftig verschuldet, obwohl der Schuldenstand bereits hoch war und die hohen Wachstumsraten eine Chance geboten hätten, einen Teil zurückzuzahlen. Die Finanzkrise sowie die Enthüllung, dass vor dem Euro-Beitritt Zahlen frisiert wurden, haben Griechenland vom Kapitalmarkt abgeschnitten. Heute erschwert das gegenseitige Misstrauen zwischen Griechenland und seinen Gläubigern, aber auch innerhalb des Landes, notwendige Reformen.
In den nächsten Wochen muss Griechenland dem Internationalen Währungsfonds (IMF) Gelder zurückzahlen. Kommt es zum Ausfall?
Die Summen, um die es hier geht, sind so klein. Eigentlich lächerlich klein.
Trotzdem ist offen, ob Griechenland zahlt.
Es ist eine Tragödie. Die Debatte kreist viel zu sehr darum, wer die Schuld an der Situation trägt. Athen will andere für Dinge verantwortlich machen, die im eigenen Land schiefgegangen sind. Deutschland will die Kosten niedrig halten und verhält sich in der Aussendarstellung katastrophal. Es hat viel Geld gegeben und wirkt dennoch geizig.
Was schlagen Sie vor?
Ich sehe nur eine Möglichkeit: Griechenland sollte für einen längeren Zeitraum Kapitalkontrollen einführen. Das würde bedeuten, dass ohne Genehmigung weder Geld in das Land noch aus dem Land heraus transferiert werden darf. Mit dem Effekt, dass ein Euro innerhalb Griechenlands deutlich weniger wert wäre als ein Euro im Rest der Währungszone.
Was würde das nützen?
Wir erleben eine massive Kapitalflucht aus Griechenland. Es sind nicht die ausländischen Gläubiger, die ihr Geld abziehen, es sind die Griechen selbst. Sie haben mehr als 100 Mrd. € aus dem Land gebracht. Die Europäische Zentralbank (EZB) springt ein und versorgt die Banken mit Liquidität. Das ist keine nachhaltige Situation und kann so nicht weitergehen.
Kapitalkontrollen sind ein drastischer Eingriff und bei Marktteilnehmern und Politikern gleichermassen verpönt.
Viele glauben, die Massnahme existiere nur in Entwicklungsländern. Aber in den 1950ern und 1960ern gab es auch in europäischen Nationen Kapitalkontrollen, in Portugal sogar bis in die 1970er Jahre. Sie haben damals funktioniert. Das scheinen viele verdrängt zu haben. Für Griechenland wären Kapitalkontrollen wie ein weicher Ausstieg aus der Euro-Zone.
Würde das nicht Investoren abschrecken?
In den erwähnten Ländern gab es in den 1950ern und 1960ern keine Unterbrechung der Investitionen. Aber man muss realistisch sein: Investoren werden nicht in Scharen nach Griechenland rennen. Das gilt für jedes Szenario, für den Verbleib in der Euro-Zone genauso wie für den Austritt.
Aber Investoren könnten glauben, dass andere Krisenländer nachziehen und ebenfalls Kapitalkontrollen einführen. Dann droht die befürchtete Kettenreaktion.
Falls Griechenland irgendwelche Dinge unternimmt, die plötzlich einen Boom auslösen, werden linke Parteien in Spanien und Portugal das Gleiche machen wollen. Aber ganz ehrlich: Es wird so bald keinen Boom in Griechenland geben.
«Gläubiger kommen bei schweren Staatsschuldenkrisen nicht ungeschoren davon. Wer das denkt, erliegt einer Illusion.»
Sie fordern auch einen weiteren Schuldenerlass. Wie gross muss dieser sein?
Wenn Griechenland eine realistische Chance haben soll, seinen Haushalt in den Griff zu bekommen, müssen die Schulden unter 100% des Bruttoinlandprodukts gesenkt werden. Das ist bei dem Schuldenschnitt 2012 nicht gemacht worden.
Sehen Sie nicht die Gefahr, dass hier andere Länder ebenfalls nachziehen wollen?
Es würde auch anderen Peripherie-Ländern der Euro-Zone bei der Erholung helfen, die Schuldenlast reduzieren zu dürfen. Zumindest sollten die Zinsen für einen sehr langen Zeitraum sehr tief gehalten werden. Aber dazu fehlt die politische Bereitschaft.
Weil die Länder ohnehin wieder wachsen?
Sie erholen sich viel zu langsam. In Irland sind die Staatsschulden explodiert, weil dem Land aus Angst vor einer Kettenreaktion verboten wurde, die Bankschulden abzuschreiben. Damit wurden ausländische Gläubiger gerettet. Wenn Irland den Standpunkt vertritt, dass sich andere an der Bankenrettung beteiligen sollten, ist das berechtigt.
In einer Studie schlagen Sie überschuldeten Ländern vor, unerwartete Inflation zu erzeugen. Auch das benachteiligt Gläubiger, deren Forderungen entwertet werden.
Gläubiger kommen bei schweren Staatsschuldenkrisen nicht ungeschoren davon. Wer das denkt, erliegt einer Illusion. Nehmen Sie die Euro-Zone: In den Peripherie-Staaten stehen noch Abschreiber bevor. Da werden Gläubiger ebenfalls Geld verlieren. Hätte die EZB zu Beginn der Krise 4% bis 6% Inflation geschaffen, wäre die Euro-Zone schneller aus der Rezession gekommen. Das wäre viel weniger schmerzhaft gewesen.
Wie hätte die EZB das erreichen sollen?
Ende 2008 waren die Leitzinsen noch nicht bei 0%. Mit einer deutlichen Zinssenkung wäre die Bereitschaft, höhere Inflation zu erzeugen, glaubwürdig zu vermitteln gewesen. Heute ist es dafür zu spät.
Selbst die US-Notenbank Fed, die aggressiver war, hat lange keine Inflation von 2% erreicht. Ist das nicht schwerer, als bisher gedacht?
Selbst das Fed war in der Krise zu zurückhaltend. Teilweise sehen das die Akteure heute selbst so. Der vom Fed betriebene Aufkauf von Staatsanleihen ist intransparent und wirkt nur indirekt, indem er die Zinskurve beeinflusst. Wäre das Fed noch einmal in der gleichen Lage wie 2008, würde es Negativzinsen einführen. Wie heute die Schweiz. Sie ist hier ein Vorreiter.
Die Schweizerische Nationalbank (SNB) verlangt Negativzinsen von 0,75%. Ist das richtig?
Auf jeden Fall. Meiner Meinung nach war der politische Druck so gross, dass die SNB im Januar keine andere Wahl hatte, als den Euro-Franken-Mindestkurs aufzugeben. Negativzinsen sind ein ganz normales Werkzeug, um Preisstabilität zu erreichen.
Inwiefern war der Druck zu gross?
Die SNB musste ihre Bilanz vorher bekanntlich erheblich aufblähen, um den Mindestkurs zu verteidigen. Zwar ist eine Volksabstimmung, die sie zum Kauf von Gold verpflichtet hätte, im Herbst gescheitert. Aber wenn die SNB-Bilanz auf 200% des Schweizer Bruttoinlandprodukts steigen würde, nähmen entsprechende Forderungen wieder an Fahrt auf. Technisch gesehen ist die SNB unabhängig und kann unbegrenzt Devisen kaufen. In der Praxis sollte sie öffentliche Bedenken nicht völlig ignorieren. Käme beispielsweise die Gold-Forderung durch, wäre das für die Schweiz eine Katastrophe.
Halten Sie die Bedenken an den Devisenkäufen für berechtigt?
Sie sind nicht aus der Luft gegriffen. Ein grosser Teil des Geldes ist in deutsche Staatsanleihen geflossen. Es ist zwar schwer vorstellbar, aber was wäre, wenn Deutschland ein Problem bekommt? Man sollte als Nationalbank nicht in die Situation geraten, eines Tages 40% der deutschen Schulden zu halten.
Auch die Negativzinsen sind nicht unumstritten. Pensionskassen schlagen Alarm, weil sie in diesem Zinsumfeld zu wenig Geld verdienen.
Der Aktienmarkt entwickelt sich hervorragend. Man muss den Pensionskassen erlauben, mehr zu diversifizieren. Sonst haben sie es schon bei Nullzinsen schwer.
Die Aufwertung des Frankens schadet der Schweizer Exportindustrie. Es droht eine Rezession. Was sollte die SNB tun?
Die naheliegendste Reaktion wäre, die Negativzinsen weiter zu senken. Es wäre auch denkbar, grosse Bargeld-Transaktionen zu limitieren, um die Flucht in den Franken einzuschränken. Natürlich muss die Schweiz hier aufpassen, die Reputation ihres vollständig offenen Kapitalmarktes nicht zu gefährden. Kapitalkontrollen, die viele Länder in einer ähnlichen Situation längst eingeführt hätten, kommen nicht in Frage.
«Wir sollten den Dollar nicht als aussenpolitisches Werkzeug einsetzen. Er ist eine Vernichtungswaffe.»
Ihr Vorschlag, grosse Geldscheine abzuschaffen, provoziert Kritik. Verstehen Sie das?
Grosse Geldscheine ermöglichen Steuerhinterziehung. In der legalen Wirtschaft spielen sie nur eine geringe Rolle. Wer braucht schon einen 1000-Franken-Schein? Ausserdem hätten es Zentralbanken einfacher, Negativzinsen einzuführen, wenn das Horten von Bargeld als Umgehung wegfiele. Dann müssten die Zinsen nur für kurze Zeit so tief bleiben, weil sich die Inflationserwartungen umgehend anpassen würden.
Würden Sie das auch der EZB empfehlen?
In einer Welt ohne grosse Geldscheine könnte die EZB den Zins für kurze Zeit auf –4% senken, und niemand würde mehr von Deflationsgefahren sprechen.
Die Abschaffung von Bargeld wäre das Ende der finanziellen Privatsphäre.
Man muss eine Balance finden zwischen der berechtigten Forderung nach Privatsphäre und dem Ziel, Kriminalität zu verhindern. Der Verzicht auf grosse Banknoten ist ein guter Kompromiss. Aber man sollte nicht naiv sein. Im Zeitalter von Smartphones und öffentlichen Kameras kann uns der Staat sowieso überwachen.
Würden Sie das auch so entspannt sehen, wenn Sie in einer Diktatur lebten?
Man kann argumentieren, dass sich Bürger in gewissen Ländern mit dem Dollar vor Enteignung schützen können. Auf der anderen Seite spielt er bei Drogenkriegen in Kolumbien oder Mexiko eine sehr negative Rolle, weil es den Regierungen dort kaum gelingt, Geldflüsse zu kontrollieren. Wir sollten den Dollar nicht als aussenpolitisches Werkzeug einsetzen. Er ist eine Vernichtungswaffe
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