Ein Händler an der New Yorker Börse
Ein Händler an der New Yorker Börse © Reuters
An der Wall Street steigt dieser Tage die Nervosität. Schlittern die Finanzmärkte gerade in eine ähnliche Situation wie 2008, als die Pleite von Lehman Brothers eine weltweite Finanzkrise verursacht hat? Der Auslöser für die steigende Unruhe ist auf den ersten Blick vergleichbar klein: Third Avenue, ein New Yorker Investmentfonds, muss abgewickelt werden. Bereits am vergangenen Donnerstag hatte das Management angekündigt, den 789 Millionen Dollar schweren Fonds dicht zu machen. 
An sich sind 789 Millionen Dollar an der Wall Street keine besorgniserregend hohe Summe, selbst wenn das ganze Geld verloren wäre. Was Investoren beunruhigt, sind die breiteren Implikationen des Kollapses. Geschürt wird die Angst zusätzlich von der bevorstehenden Sitzung der US-Notenbank. Die Fed könnte die erste Zinserhöhung seit 2006 beschließen. Viele Unternehmen nutzten die lange Periode der Niedrigstzinsen, um sich billig zu verschulden. In manchen Fällen reicht schon eine geringe Anhebung der Zinsen, um die Unternehmen in Zahlungsschwierigkeiten zu bringen. 
Third Avenue hatte ein Portfolio voll mit Unternehmen, die den Schuldenspielraum bis aufs Äußerste ausgereizt hatten. Als angesichts der anstehenden Fed-Entscheidung aufgeschreckte Investoren ihre Einlagen zurückforderten, versuchten die Third-Avenue-Manager Papiere zu verkaufen. Doch andere Marktteilnehmer lehnten offenbar dankend ab. So musste der Fonds schließlich seinen Anlegern mitteilen, dass er ihnen ihr Geld nicht zurückzahlen können würde. Stattdessen würde er abgewickelt. Als das ruchbar wurde, begannen unruhig gewordene Investoren auch andere Fondsanteile und Kreditpapiere abzustoßen. 

Eine Verkaufswelle beginnt

Die Verkaufswelle setzte sich diese Woche fort. Lucidus Capital Partners, ein weiterer Fonds mit 900 Millionen Dollar, hat ebenfalls seine Schließung angekündigt, und der Stone Lion Capital Partners Fonds hat Auszahlungen bis auf Weiteres gesperrt. Die Vorgänge wecken unangenehme Erinnerungen an die Finanzkrise. Im Juni 2007 brachen zwei Hedgefonds der Investmentbank Bear Stearns zusammen. Ihre Portfolios waren voll mit Wackelhypothekenpapieren, die praktisch unverkäuflich geworden waren, und als nervös gewordene Anleger ihr Geld zurückwollten, rutschten die Fonds in die Zahlungsunfähigkeit. Acht Monate später folgte der Kollaps von Bear Stearns selbst und im Herbst 2008 fiel Lehman Brothers den Wackelhypotheken zum Opfer.
Seit einiger Zeit warnen Skeptiker vor einer Anleiheblase. Industrieanleihen erlebten nach der Finanzkrise einen ungekannten Aufstieg. Seit 2008 gaben US-Unternehmen mehr als sieben Billionen Dollar an Anleihen aus. Allein 1,6 Billionen Dollar davon waren sogenannte Junkbonds oder Müllanleihen, die Wall-Street-Bezeichnung für Schuldenpapiere von Unternehmen mit geringerer Kreditbewertung – das erinnert an die Suprime-Hypotheken, die einst an Hauskäufer mit schlechter Bonität ausgereicht wurden. 

Es entsteht eine gefährliche Marktdynamik

Jetzt fürchten die Anleger, dass die Finanzierungsquellen für die wackeligen Unternehmen versiegen könnten und sie ihre Schulden nicht mehr bedienen können. Besonders betroffen sind Firmen im Ölsektor. Sie geraten zusätzlich unter Druck, weil der Ölpreis stark gefallen ist. Anfang der Woche rutschte er unter 35 Dollar pro Barrel. Darunter leiden vor allem die einst boomenden Fördergesellschaften, die mit der teuren Fracking-Methode arbeiten. Sie brauchen einen Ölpreis von mindestens 45 bis 65 Dollar pro Barrel, sonst machen sie Verluste. Gleichzeitig haben gerade viele dieser Unternehmen ihre Expansion weitgehend auf Pump finanziert.
Gefährlich wird die Dynamik am Markt, wenn viele Anleger ihre Anleihen gleichzeitig losschlagen wollen – wie in den vergangenen Tagen. Das drückt die Preise für die Papiere – und veranlasst weitere Anleger, ihre Anleihen auf den Markt zu schleudern. Eine Welle von Zwangsverkäufen kann Fondsbetreiber zwingen, auch andere Papiere wie etwa Aktien oder Derivate loszuschlagen. Im schlimmsten Fall löst das eine Panikspirale aus, die auch auf andere Bereiche des Finanzmarktes übergreift. Was die Lage verschärft: Es gibt weit mehr Anleihen als je zuvor, aber weniger potenzielle Käufer für sie.

Ausdruck tiefer Verzweiflung

Vor der Finanzkrise gehörten Großbanken zu den Abnehmern. Sie spekulierten darauf, die Papiere später wieder mit Gewinn zu verkaufen. Doch nach der Finanzkrise wurden neue Regeln eingeführt, die diesen Eigenhandel einschränken. Der gefährliche Engpass beunruhigt die Wall Street schon seit Monaten. Regulierer, Banker und Fondsbetreiber trafen sich mehrfach hinter verschlossenen Türen, um zu diskutieren, wie eine mögliche Panik verhindert werden kann.
Die jüngsten Ereignisse sind nicht das Ergebnis gieriger Spekulation, sondern Ausdruck tiefer Verzweiflung. Die Bond-Blase ist eine Spätfolge der Finanzkrise. Um die Wirtschaft vor dem Absturz in die Depression zu bewahren, senkten die Notenbanker die Zinsen auf nahe Null. Doch das hatte Nebenwirkungen. Denn für Versicherungen und Pensionsfonds wurde es immer schwieriger, ihre notwendigen Renditen zu erzielen. Nach einer Studie von 2012 rechnen die meisten staatlichen US-Pensionsfonds mit einer Rendite von acht Prozent über 15 bis 30 Jahre. Nach den Rückschlägen der Finanzkrise und angesichts der Tatsache, dass Staatsanleihen kaum etwas abwerfen, suchten die Pensionskassen nach Möglichkeiten, die immer weiter aufklaffende Renditelücke zu stopfen. Die Junkbonds schienen eine gute Idee. Jetzt kann sich diese Lösung als gefährliche Fehlkalkulation erweisen.
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