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Donnerstag, 1. Oktober 2015

Impressionen von einer griechischen Insel Stolz ohne Quittung Wer dieser Tage in Griechenland Inselferien macht, reibt sich vielerorts die Augen. Obschon man nach Krisensymptomen Ausschau hält, fehlt davon jede Spur.

Impressionen von einer griechischen Insel
Stolz ohne Quittung

Wer dieser Tage in Griechenland Inselferien macht, reibt sich vielerorts die Augen. Obschon man nach Krisensymptomen Ausschau hält, fehlt davon jede Spur.
Auch in Krisenzeiten lassen es sich die Griechen und ihre Gäste nicht nehmen, ausladend zu tafeln.
Auch in Krisenzeiten lassen es sich die Griechen und ihre Gäste nicht nehmen, ausladend zu tafeln. (Bild: Cathal McNaughton / Reuters)
Jedes Jahr, wenn ich im Sommer zurück auf unsere griechische Insel komme, freue ich mich, meine Katzen wiederzufinden. Immer mehr Tiere schaffen es, den winterlichen Vergiftungsaktionen, die der rasanten Fortpflanzung Einhalt gebieten sollen, zu entkommen. Die Giacometti-Katze überlebt jetzt schon das fünfte Jahr. Ich habe sie «die Giacometti-Katze» genannt, weil ihr Körper den Spindel-Figuren des Bildhauers gleicht. So surreal dünn ist dieses schwarz-gelb gefleckte Wesen, das im letzten Winter eins seiner gelblich lodernden Augen verloren hat, dass es dem Reich der Kunst entsprungen sein muss. Oder, um beim Ort des Geschehens zu bleiben, der Mythologie.
Wenn der Umgang mit Tieren ein Indikator ist, dann haben die Bewohner unserer einst archaischen Bauern-Insel in den letzten Jahrzehnten einen Evolutionssprung gemacht. Früher wurden die Hunde irgendwo in der glühenden Ödnis an einen Pfahl gebunden, heute werden sie auf dem Moped spazieren gefahren. Unser Nachbar, Giorgos, zieht seit Jahren schon kleine Kätzchen gross. Er hat ein Faible für weisse Katzen mit blauen Augen. Weisse Katzen mit blauen Augen sind meistens taub, weshalb die Chora der Insel inzwischen von dieser gehörlosen Spezies bevölkert wird.
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Giorgos, der eine kleine Autowerkstatt betreibt, lebt an der unteren Armutsgrenze, und doch steht dieses Jahr ein neues Motorrad vor seinem Haus. Vor einiger Zeit hat er sich für 5000 Euro ein Schweissgerät angeschafft. Weil er den Kredit dafür nicht zurückzahlen konnte, musste Giorgos das kleine Grundstück, auf dem seine Werkstatt steht, an die Bank veräussern. Doch anstatt die Miete, die er nun dafür zahlen muss, zurückzulegen, hat er sich eben ein dickes Motorrad gekauft. Jetzt muss er die Werkstatt wahrscheinlich schliessen. Der Witz von dem Bauern, der seine letzte Kuh für eine neue Melkmaschine in Zahlung gibt, scheint symptomatisch zu sein für dieses Land.

Esel und Polizistinnen

Wir kommen seit mehr als einem Vierteljahrhundert nach Griechenland. Bevor die Aufnahme des Landes in die EU das Leben durch Zuschüsse und Verordnungen mit einem Schlag aus der Vor- in die Postmoderne katapultierte, hatte es hier ein einziges Telefon, keinen Bankautomaten und gerade mal zwei Hotels gegeben. Doch seit Brüssel seine Pandora-Büchse geöffnet hat, ist der Lebensstandard geradezu explodiert. Plötzlich war die einzige Hauptstrasse, auf der zuvor nur Dreiräder oder Mopeds knatterten, nicht nur von schicken Autos, sondern auch von völlig überflüssigen Stopp- und Vorfahrtsschildern gesäumt.
Vorletztes Jahr noch waren hier sieben Verkehrspolizistinnen stationiert. Wie viele Ordnungsmassnahmen, die aus Brüssel auf die Insel gekommen sind, haben auch diese Schilder und Polizistinnen glücklicherweise nicht das Geringste bewirkt. Nirgendwo schliesslich drückt die griechische Lebensart sich liebenswürdiger aus als im Strassenverkehr, wo man gern abrupt in der Mitte der Fahrbahn stehen bleibt, um mit dem entgegenkommenden Fahrer ein Stau-intensives Gespräch zu führen. Die sieben Polizistinnen sind mittlerweile dem Sparstift zum Opfer gefallen. Sonst aber ist auf unserer Insel von der Krise nicht das Geringste zu sehen.
Oder täuschen wir uns? In diesem Jahr liegt ein graues Kriegsschiff in der idyllischen Bucht. Hin und wieder steigt abends dort ein Helikopter auf und streift im Tiefflug über das Wasser. Die Flüchtlingsströme, die das Mittelmeer in eine Todeszone verwandelt haben, kentern freilich nicht vor den Ufern unseres kleinen Eilands, sondern stranden auf der nicht allzu weit entfernten Insel Kos. Hunderttausende sind in diesem Jahr an den griechischen Küsten gelandet, 750 Prozent mehr als im letzten Jahr. Man kann verstehen, dass die Griechen am europäischen Solidaritätsgedanken erhebliche Zweifel hegen, wenn andere Länder die Aufnahme von Migranten schlichtweg verweigern.
Das Kriegsschiff liegt schon seit ein paar Monaten vor der Küste. Dass es sich zur Haupt-Touristen-Zeit ins Blickfeld der Strände schiebt, habe freilich nicht so sehr mit den Migranten oder dem türkischen Erzfeind zu tun als vielmehr mit dem Drang des Verteidigungsministers Panos Kammenos, seine Präsenz zu markieren, sagt unser Freund Petros. Seit der Chef der rechtspopulistischen Partei Unabhängige Griechen an der Spitze der Streitkräfte stehe, sei das Militär überall. Bei seinem Auftritt in Kos im August ist Kammenos von aufgebrachten Inselbewohnern, die sich mit dem Flüchtlingsandrang von Athen alleingelassen fühlen, mit Eiern und Flaschen beworfen worden. Unsere Nachbarin Vania aber erfüllt das Kriegsschiff mit patriotischem Hochgefühl. Sie ist stolz auf das griechische Militär.
Freilich hat die Besatzung des Kriegsschiffs vor unserer Insel nicht viel zu tun. Wenn man den regen Bootsverkehr abends als Indikator nimmt, dann amüsieren sich die Soldaten nicht anders als all die Feriengäste, die die Bars und Cafés bis zum Anschlag füllen. Bankrotte Geschäfte, hungernde Menschen, leere Regale? Alarmiert von den dramatischen Szenen, die uns vor unserer Ankunft täglich ins Haus geschneit sind, waren wir auf das Schlimmste gefasst. Glaubt man dagegen dem Augenschein, dann ist die Griechenland-Krise zumindest auf unserer kleinen Insel eine Erfindung der Medien. Doch man dürfe, sagt Petros, seinen Augen nicht trauen.
Nicht trauen darf man den überfüllten Stränden, den ausgebuchten Hotels, den Schlangen vor den Restaurants? Nicht glauben dürfen wir den gut sortierten Regalen, den teuren Autos und all den Luxusjachten mit griechischer Flagge am Mast? All das, sagt Petros, sei eine Täuschung. Die Griechen machten jetzt nicht mehr sechs Wochen Ferien im Jahr, sondern nur noch drei. Sie wohnten auf dem Campingplatz, bei Freunden oder Verwandten. Und gingen sie doch einmal aus, dann sässen sie den ganzen Abend vor einem Bier. Zumindest was das Letztgenannte angeht, darf man für unsere Insel Entwarnung geben: Die wunderbare griechische Art, ausladend zu tafeln, hat nicht gelitten. Hier hungern allein die Katzen.
Natürlich hören wir immer wieder, dass man die Inseln nicht mit den Städten vergleichen darf, und das mag stimmen. Doch unsere Bauern-Insel ist ja durchaus kein Ort für den internationalen Edel-Tourismus wie etwa Santorini oder Mykonos, wo reiche Ausländer in Fünf-Sterne-Resorts Ferien machen. Es gibt hier auch keine Neckermann-Touristen und keine grossen Hotels. Die meisten Touristen auf unserer Insel sind Griechen – und die kommen nirgendwo anders her als aus Athen.

Nichts dazugelernt

Wo die Krise sich allerdings deutlich bemerkbar macht, das ist in der Krankenversorgung – auch auf unserer Insel. Vor etwa zehn Jahren wurde hier mit EU-Geldern ein Hospital gebaut, das nie den Betrieb aufnahm. Zwei Räume werden heute als Krankenstation genutzt; nicht einmal das Röntgengerät funktioniert. Das Krankenhaus war freilich von Anbeginn für diesen Ort völlig überdimensioniert. Jetzt teilt es das Schicksal all der halb fertiggestellten Bauruinen, die die Insel verschandeln.
Was Proportionen angeht, hat man in Brüssel in all den Jahren offenbar nichts dazugelernt. Für eine 36 Einwohner zählende Küstenortschaft wird jetzt mit EU-Subventionen eine neue Strasse gebaut. Sie muss den EU-Richtlinien gemäss vierspurig sein, weil jeweils zwei Feuerwehrwagen nebeneinander Platz haben müssen. Der Witz: Die Insel hat nur ein einziges Löschfahrzeug.
Die griechische Gesellschaft, hat der Schriftsteller Petros Markaris in einem Interview gesagt, kenne weder Kompromiss noch Konsens. In einem freilich scheint man sich einig zu sein: Hört man den meisten Griechen so zu, dann wohnen die Rachegötter nicht mehr auf dem Olymp, sondern in Berlin. Statt Reformen auf den Weg gebracht, sagen sie im Anklageton, würden nur ihre Steuern erhöht. Es ist klar, dass sie dem deutschen Finanzminister die Schuld dafür geben, wenn ihre Regierung sich schwer damit tut, den aufgeblähten Staatsapparat zu schröpfen, Privilegien zu killen oder die Kirchen und Reeder zur Kasse zu bitten. Womit nicht gesagt sein soll, dass Deutschland, das von den Investitionen jahrelang profitiert hat, seine Hände in Unschuld waschen darf. Nimmt man allein den Fuhrpark auf unserer Insel als Indikator, dann hat BMW in Griechenland ein gutes Geschäft gemacht.
Doch all der Klientelismus, die Schlitzohrigkeit, der mangelnde Sinn fürs Gemeinwesen kommen ja nicht aus dem Nichts. Man muss ja nicht gleich «Bild»-Zeitungsschlagzeilen liefern; etwas Historie tut es auch. 400 Jahre währende osmanische Fremdherrschaft haben eine Mentalität geschaffen, in der der Staat als der Feind firmiert, den man mit Steuern nicht noch unterstützt. Ein Kassenbon beim Kaufmann? Na ja. Eine Quittung im Restaurant? Schön wär's. Stattdessen: Stolz, Ehre, Würde, Wiege der Demokratie! Die Pathosformeln der Politik, genauer: die Legende vom kleinen Volk, das sich gegen fremde Grossmächte mutig zur Wehr gesetzt hat, wird jedem Kind in der Schule schon eingebleut. 300 Spartaner gegen Millionen Perser, David gegen Goliath, Athen gegen den Rest der Welt – das ist das Modell, nach dem auch heute noch lauthals «Ochi» gerufen wird. Doch um Mentalitätsfragen hat man sich in Brüssel nie geschert.

Popenstimme und Discomusik

Und doch hat sich in den letzten Jahren manches getan – auch auf unserer kleinen Insel. Nach der Aufnahme Griechenlands in die EU gab es hier nur noch Aprikosen. Heute bauen viele Bewohner wieder Obst und Gemüse im eigenen Garten an. Im Geschäft wird stolz auf die lokalen Produkte verwiesen – auch wenn gleich daneben eine Palette perfekt gerundeter, sehr holländisch aussehender Tomaten steht.
Und vielleicht ist unsere Insel ja typisch für ein Land in der Zerreissprobe zwischen Konsumgesellschaft und Tradition. Wenn zum höchsten Kirchenfest eine Prozession schwarzgekleideter alter Frauen den Berg zur Kirche hochpilgert, mischt sich die klagende Stimme des Popen in die vom Strand herüberwehende Discomusik. Auf dem Marktplatz wird derweil spät in der Nacht eine Diashow auf die Mauern der alten Mühle, in der jetzt eine Touristen-Information beheimatet ist, projiziert: Aufnahmen aus vier Jahrzehnten Inseldasein, eine melancholisch stimmende Chronik der wiedergefundenen Zeit. Sie zeigt eine Dorfgesellschaft, deren warmherzige und überschäumende Mentalität aus dem Geist der Improvisation, dem Regelbruch und der Liebe zum Feiern entsprungen ist. Was ist eigentlich gewonnen, wenn dafür kein Platz mehr in unserem durchregulierten Brüssel-Europa ist
http://www.nzz.ch/feuilleton/stolz-ohne-quittung-1.18622234

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