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Mittwoch, 18. Mai 2016

Ausnahmezustand verhängt „Venezuela ist eine Bombe“ Caracas steht vor dem endgültigen Kollaps. Das Regime entzieht dem Parlament die Rechte und das Volk leidet unter einer immer katastrophaleren Versorgungslage. Präsident Maduro baut derweil am „Parallelstaat“.

Ausnahmezustand verhängt„Venezuela ist eine Bombe“

Caracas steht vor dem endgültigen Kollaps. Das Regime entzieht dem Parlament die Rechte und das Volk leidet unter einer immer katastrophaleren Versorgungslage. Präsident Maduro baut derweil am „Parallelstaat“.
 von SÃO PAULO
© REUTERSSchlange stehen für Klopapier und Windeln in Caracas
Wahrscheinlich kann nur noch ein Wunder Venezuela retten. Die Wirtschaft ist kollabiert und gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen dem sozialistischen Regime von Präsident Nicolás Maduro und Anhängern der Opposition deuten sich schon jetzt an. „Wenn sie den demokratischen Weg versperren, wissen wir nicht, was passiert“, hatte Oppositionsführer Henrique Capriles am Wochenende gewarnt: „Venezuela ist eine Bombe, die jeden Augenblick explodieren kann.“ Am Freitag hatte in Caracas noch Rätselraten darüber geherrscht, was sich hinter der Ankündigung des Präsidenten verbergen mag, wonach nicht nur der im Januar verhängte „Wirtschaftsnotstand“ um zunächst 60 weitere Tage verlängert werde, sondern dass auch ein „Ausnahmezustand“ in Kraft treten werde. Maduro hatte in seiner wöchentlichen Fernsehansprache Ende vergangener Woche keine Einzelheiten zum Ausnahmezustand genannt. Er machte aber deutlich, dass der Wirtschaftsnotstand wohl bis ins Jahr 2017 hinein andauern werde.
Die Veröffentlichung des Dekrets im Amtsblatt am Montagnachmittag hat nun alle Zweifel auch über den Ausnahmezustand beseitigt. Der Präsident hat das Parlament, in dem das Oppositionsbündnis „Vereinigter Demokratischer Tisch“ (MUD) seit seinem Erdrutschsieg bei der Parlamentswahl vom Dezember über eine Zweidrittelmehrheit der Sitze verfügt, faktisch entmachtet. Zudem hat er jenen parallelen Strukturen, die seit der Machtübernahme von Revolutionsführer Hugo Chávez 1999 systematisch aufgebaut worden waren und von Günstlingen des Regimes organisiert werden, umfassende exekutive Vollmachten erteilt. Damit bekommt der „Parallelstaat“, den die Sozialistische Partei unter Chávez und Maduro zur „Verteidigung der Revolution“ geschaffen hat, vollends die Macht übertragen.
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Allein auf zwei Seiten des vierseitigen Dokuments zur Verhängung des Ausnahmezustands wird gegen die nun von der Opposition kontrollierte Nationalversammlung polemisiert. Deren Ziel sei es, „willentlich eine Konfrontation“ mit der Regierung und der Justiz herbeizuführen sowie den „Sturz des Präsidenten“ zu erreichen. Den ersten Vorwurf der „willentlichen Konfrontation“ erhebt ihrerseits auch die Opposition gegen das Regime: Maduro ignoriere vom Parlament verabschiedete Gesetze oder lasse sie von der gleichgeschalteten Justiz kassieren. So geschehen mit dem Amnestiegesetz zur Freilassung politischer Gefangener und auch mit einer Verfassungsänderung, mit der die Amtszeit des Präsidenten von sechs auf vier Jahre hätte verkürzt werden sollen.

Schuld tragen die üblichen Verdächtigen

Den zweiten Vorwurf, wonach das Parlament den „Sturz“ des 2013 mit knapper Mehrheit gewählten Präsidenten Maduro anstrebe, weist die Opposition zurück. Vielmehr versuche man, mit dem in der Verfassung verankerten Mittel einerVolksabstimmung auf legalem Wege das vorzeitige Ende der Amtszeit des Präsidenten zu erreichen. Ein ähnliches Referendum zur Amtsenthebung gegen Chávez war 2004 mit 41 zu 59 Prozent der Stimmen gescheitert. Maduro, mit dessen Amtsführung nach jüngsten Umfragen allenfalls noch 15 Prozent der Venezolaner zufrieden sind, kann und will das Risiko nicht eingehen, das Volk in einem Referendum über seinen Verbleib entscheiden zu lassen. Seine Amtszeit endet regulär im April 2019. Maduro hat immer wieder bekräftigt, er werde ungeachtet der akuten Wirtschaftskrise mit der weltweit höchsten Inflationsquote (bis zu 300 Prozent allein in diesem Jahr) und trotz der katastrophalen Versorgungslage und immer längeren Stromausfällen sein Mandat bis zum letzten Tag erfüllen.
Venezuela in der KriseVenezuelas Präsident Maduro hat seinen Anhängern versprochen, seine Amtszeit regulär zu beenden.© DPABilderstrecke 
Das Schicksal seiner politischen Verbündeten Dilma Rousseffdie vom Parlament in Brasília jüngst von ihrem Amt suspendiert wurde, und die Ratschläge der in Caracas zahlreich stationierten kubanischen Geheimdienstoffiziere und Parteikader dürften Maduro in seiner Entschlossenheit nur noch bestärkt haben. Schon in seiner Fernsehansprache am Freitag hatte Maduro die üblichen Verdächtigen für die Krise im Land genannt: Es gelte, „das Volk gegen die ständigen Angriffe der nationalen Rechten und der mit dieser verbündeten imperialistischen Macht zu schützen“. Damit sind, wie jeder in Venezuela weiß, die Vereinigten Staaten gemeint.
Mit allen Mitteln versucht das Regime, das von der Opposition im Parlament angestoßene Amtsenthebungsreferendum zu hintertreiben. Der von Maduro ernannte Oberste Wahlrat etwa verzögert den Prozess der Verifizierung der von der Opposition am 2. Mai eingereichten Unterschriften. Erst am 2. Juni will der Wahlrat das Ergebnis seiner Überprüfungen bekanntgeben. Vizepräsident Aristóbulo Istúriz nahm dieses Ergebnis am Sonntag schon vorweg. „Maduro wird nicht in einem Referendum abgewählt“, sagte Istúriz und fuhr fort: „Vergesst es, es wird keine Volksabstimmung geben.“ Die Opposition habe bei ihrer Unterschriftensammlung für das Referendum Fristen versäumt und außerdem betrogen. Um welche Fristen es sich dabei handeln soll, sagte Istúriz nicht. MUD-Generalsekretär Jesús Torrealba setzte Istúriz entgegen: „Das Volk wird auf die Straße gehen, und es wird nicht innehalten, bis es eine Volksabstimmung gibt.“ Kaum ein Detail lässt das Dekret vom Montag aus, was die Verteilung der knappen Lebensmittel und der Güter des täglichen Bedarfs sowie die Kontrolle der Produktionsmittel angeht.

Staat und Armee entscheiden über Lebensmittelvergabe

Demnach wird das Militär gemeinsam mit den der Partei unterstehenden Bürgerwehren „die Verteilung und Vermarktung von Lebens- und Grundnahrungsmitteln“ gewährleisten. Die Übertragung der Kontrolle über Produktion und Distribution von Lebensmitteln an die Streitkräfte dürfte auch umfassen, dass das Militär Privatunternehmen zur Herstellung zwingen kann. Zuletzt hatte „Polar“, der größte private Konzern des Landes, das Brauen seiner verschiedenen Biersorten eingestellt, weil er sich nicht mehr die erforderlichen Devisen zum Import von Gerstenmalz beschaffen konnte. Der venezolanische Staat beschränkt die Devisenmenge, die Privatunternehmen zum kontrollierten Wechselkurs erhalten können, um Einfuhren zu bezahlen. Während die Privatwirtschaft die Regulierungswut und das Missmanagement des Staates für den Niedergang der heimischen Produktion verantwortlich macht, wirft das Regime den Unternehmern vor, gemeinsam mit den Vereinigten Staaten einen „Wirtschaftskrieg“ gegen das venezolanische Volk zu führen.
Eine noch größere Rolle bei der Verteilung von Lebensmitteln, Versorgungsgütern und Medikamenten an die Bevölkerung sollen künftig die vom Regime geschaffenen „Lokalen Komitees zur Versorgung und Produktion“ (CLAP) spielen. Diese werden direkt vom Staat und vom Militär beliefert und verteilen die Lebensmittel zu Niedrigpreisen an ausgewählte Familien. Wer in den Stadtteilen und Gemeinden in den Genuss der Lieferungen kommt statt stundenlang vor den staatlichen Supermärkten anstehen zu müssen, entscheiden die rund 30.000 „Kommunalräte“ im Land. Auch diese Parallelstruktur zu herkömmlichen Gemeinderäten, Magistraten und Stadtteilvertretungen wurde schon vor zehn Jahren auf Geheiß von Chávez als basisdemokratische Erweiterung der kommunalen Selbstverwaltung geschaffen. Vor allem aber sind die Kommunalräte und die CLAP-Komitees Instrumente zur politischen Kontrolle: Wer unbotmäßig ist oder gar im Verdacht steht, die Opposition zu unterstützen, geht leer aus.
Seit rund zwei Jahren versucht das Regime nun schon vergeblich, mit immer neuen Kontrollen und weiteren Parallelstrukturen zum Markt die Versorgungsengpässe zu bekämpfen. Doch das strukturelle Problem blieb bestehen, die Schwierigkeiten wuchsen: Venezuelas heimische Produktion verkümmerte in der sozialistischen Monopolwirtschaft des Öls – Venezuela besitzt die weltweit mutmaßlich größten bekannten Vorkommen. Solange die zu 95 Prozent aus der Ölausfuhr stammenden Devisenerlöse sprudelten, konnten nicht nur die Importe von Lebensmitteln, Versorgungsgütern und Medikamenten bezahlt werden. Es blieben auch noch Milliarden für Transferzahlungen und Sozialleistungen übrig. Mit dem Einbruch des Ölpreises auf dem Weltmarkt brach auch Venezuelas Wirtschaft zusammen. Bisher konnte Caracas mit immer neuen Milliardenkrediten aus China die Löcher stopfen. Bisher hat Caracas zudem alle internationalen Zahlungsverpflichtungen erfüllt – freilich um den Preis, dass noch weniger Devisen für Einfuhren zur Verfügung stehen.

Politisch hat sich nichts bewegt

Das Ergebnis ist ein immer dramatischerer Notstand bei der Versorgung mit Lebensmitteln, Versorgungsgütern und Medikamenten. Stundenlanges Anstehen vor den staatlichen Supermärkten, zuletzt immer häufigere Plünderungen von Lebensmitteltransporten und Proteste der Bevölkerung sind die Folge. Zugleich blüht der Schwarzmarkt, der zu überhöhten Preisen alles bietet, was es zum staatlich festgelegten Niedrigpreis nicht gibt. Auch die medizinische Versorgung in den Krankenhäusern und Polikliniken Venezuelas ist kaum noch aufrecht zu erhalten. Hinzu kommt wegen der anhaltenden Dürre schließlich die Elektrizitätskrise mit stundenlangen Stromsperren.
Der klare Sieg des Oppositionsbündnisses bei den Parlamentswahlen vom 6. Dezember schien eine Wende einzuleiten. Doch seither hat sich politisch nichts bewegt. Maduro hat sich per Dekret immer neue Befugnisse gegeben, die das Parlament abgelehnt hat, ohne sie jedoch außer Kraft setzen zu können. Mit seiner jüngsten Ermächtigung gibt sich Maduro das Recht, alle erforderlichen „Maßnahmen zum Erhalt der sozialen Ordnung sowie im ökonomischen, politischen und juristischen Bereich anzuordnen“. Mit weiteren „besonderen Maßnahmen“ kann er das Land zudem gegen jede Einmischung und Bedrohung von außen verteidigen. Es ist ein Blankoscheck zum Einsatz der Bürgerwehren und auch des Militärs, das bisher treu zum Regime steht. Die Opposition hat angekündigt, sie werde ihre Anhänger zu Demonstrationen aufrufen, sollte das Regime den Weg zu politischen Änderungen und einem Machtwechsel über die politischen Institutionen und ein Referendum versperren. Für diesen Mittwoch rief der MUD zu weiteren Protesten auf.

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