Gesamtzahl der Seitenaufrufe

Montag, 7. März 2016

Eine neue, diesmal kurdische Flüchtlingswelle „Wenn der Frühling kommt, könnte die Gewalt sich steigern, und wenn sie auf Istanbul, Ankara und Izmir übergreift, könnte eine neue, diesmal kurdische Flüchtlingswelle entstehen und Millionen umfassen“, so Demirbas. Deshalb müsse Europa sich der Politik des türkischen Staates entgegenstellen, fordert er, sieht allerdings auch die bewaffneten Kurden in der Pflicht. „Beide Seiten sollten eine ehrenvolle Kehrtwende vollziehen und ihren jetzigen Standpunkt aufgeben. Das Parlament sollte eine Rolle spielen und der Verhandlungsprozess wieder aufgenommen werden. Sonst werden im Frühling weitere bewaffnete Kräfte der PKK eingreifen, und der Konflikt wird sich vertiefen.“

Krieg in AnatolienDie nächste Flüchtlingswelle?

Im Südosten Anatoliens tobt ein Krieg. Kurdische Politiker verlangen von der EU, dass sie sich für einen Frieden einsetzt. Kann der Konflikt zur Gefahr für Europa werden?
© DPAProtest unerwünscht: Die türkische Polizei geht mit Wasserwerfern gegen Demonstranten vor dem Sitz der Zeitung „Zaman“ vor.
Jetzt im März könnte es wieder losgehen, warnt Ertugrul Kürkcü. „Dann wird der Krieg auf dem Lande wieder aufflammen. Die PKK wird ihre Kräfte von den Bergen herunterbringen in die Städte, die jetzt von Regierungskräften belagert werden“, sagt der Abgeordnete und frühere Vorsitzende der vor allem von Kurden, aber auch von einem Teil der türkischen Linken unterstützten „Demokratischen Partei der Völker“ (HDP), der drittstärksten Kraft im Parlament in Ankara. Ertugrul Kürkcü ist ein besonderer Abgeordneter der „Kurdenpartei“, wie sie vereinfachend oft genannt wird – denn er ist Türke.
Kürkcü gilt als Galionsfigur der türkischen Linken mit einem nicht unproblematischen Lebenslauf, terroristische Irrwege in jungen Jahren eingeschlossen. Das ist freilich Jahrzehnte her, Kürkcü vertritt jetzt demokratische Werte und lehnt Gewalt als Mittel der Politik ab – auch die Gewalt der PKK, also der terroristischen „Arbeiterpartei Kurdistans“, sowie einer neuen Organisation, die sich „Patriotisch-revolutionäre Jugendbewegung“ nennt. Deren sehr junge, oft minderjährige Kämpfer liefern sich im Südosten Anatoliens seit Monaten Gefechte mit türkischen Sicherheitskräften.
Anzeige
VERMÖGENSPLANUNG

Clever sparen mit den Jahren so reift Ihr Vermögen mit Ihnen

Welche Kapitalanlage ist für mich am besten geeignet? Und welche Rolle spielt dabei das Alter? Experten verraten, welche Sparmaßnahmen in welcher Lebensphase die geeignetsten sind. mehr...
Kürkcü bezeichnet sie als „unqualifizierte, ungebildete, patriotische junge Menschen“, entstanden „aus einer Art Subkultur“ in den Städten Südostanatoliens. Es handele sich um eine zum Teil kriminelle Jugend, die ohne Perspektive im ärmsten Teil der Türkei aufgewachsen sei, um „riesiges leicht entflammbares Material“, in Anatoliens Städten, wie Kürkcü es ausdrückt. „Hunderttausende junge Menschen ohne Arbeit, ohne Schulbildung, ohne Einkommen finden sich in armen Stadtteilen zusammen. Mit 15 Jahren sind sie zum Kämpfen bereit.“

Neue Generation trägt Gewalt in die Städte

Im Unterschied zu früher finden die Kämpfe allerdings nicht auf dem Lande oder in Grenzregionen statt, sondern in den Städten, in welche die kurdische Landbevölkerung in den neunziger Jahren vor dem damaligen Krieg zwischen der PKK und dem türkischen Staat geflohen ist. Früher verübte die PKK Anschläge auf Militärkonvois mit ferngezündeten Bomben, überfiel Außenposten der türkischen Armee an der Grenze zum Irak oder einzelne Polizisten.
Jetzt trägt eine neue Generation die Gewalt in die Städte, errichtet dort Straßensperren und Sandsackposten, nimmt die bewaffnete Reaktion Ankaras und damit den Tod (kurdischer) Zivilisten bewusst in Kauf. Der türkische Staat muss wie jeder Staat sein Gewaltmonopol wahren, antwortet aber oft mit unverhältnismäßiger Härte, verhängt wochenlange Ausgangssperren, in manchen Orten kommt es zu Straßen- und Häuserkämpfen. Die Fotos manch eines von türkischer Armee und Sonderpolizei „befreiten“ Ortes erinnern an Bilder aus Aleppo oder Homs.
Kürkcü lehnt diese Kämpfe ab, macht aber deutlich, dass er den türkischen Staat für den Hauptschuldigen an dem Blutvergießen hält. „Die Regierung hat viele unschuldige Opfer zu verantworten. Die Menschen in den kurdischen Städten und Landstrichen sind voller Hass und sinnen nach Rache“, stellt er fest und kritisiert die Sicherheitsbehörden: „Früher wurde der Krieg von der Armee geführt, jetzt spielen Sondereinheiten der Polizei eine zentrale Rolle. Diese Einheiten haben eine Lizenz zum Töten. Sie können jederzeit jeden töten, wie es ihnen beliebt.“ Einst habe sich die Gewalt gegen kurdische Kämpfer und deren mutmaßliche Sympathisanten gerichtet. „Jetzt können sie Gewalt gegen jeden Bürger richten, und das tun sie.“
Kürkcü spricht von einer „neuen Ära der Straflosigkeit“ und warnt vor einem Flächenbrand: „Der Konflikt hat schon auf Orte im Westen der Türkei übergegriffen. Ich mache mir Sorgen, dass es dabei nicht bleiben wird, wenn die türkische Regierung nicht einsieht, dass verhandelt werden muss.“ Eine Rückkehr zum Verhandlungstisch sei für Kurden und Türken der einzige Weg, der blutigen Logik von Gewalt und Gegengewalt zu entrinnen. Gelinge das nicht, könnten die Folgen auch Europa betreffen – in Form einer zusätzlichen Flüchtlingswelle.

Genügend sichere Rückzugsgebiete im eigenen Land

„Wenn die Verlustzahlen steigen, wenn es 10.000 oder 20.000 Opfer in drei Monaten gibt, werden die Menschen versuchen, außerhalb von Kurdistan sichere Orte zu finden.“ Eine solche „riesige einheimische Fluchtbewegung“ müsse nicht auf die Türkei beschränkt bleiben: „Menschen könnten versuchen, Asyl in europäischen Ländern zu finden, wie es die Syrer tun.“ Der Abgeordnete erinnert an die achtziger Jahre, als viele Kurden als politische Flüchtlinge nach Deutschland kamen. Das könne sich wiederholen.
Kürkcü zitiert Kurden, die sagten: „Wenn es so weitergeht und die Europäer keinen Standpunkt gegen die Menschenrechtsverletzungen der türkischen Regierung einnehmen, werden sie vor den Toren Europas eine neue kurdische Flüchtlingswelle erleben.“ Kürkcü bestreitet nicht, dass es derzeit für Kurden genügend sichere Rückzugsgebiete im eigenen Land gibt und sie aus belagerten Stadtteilen lieber in friedlichere Gegenden ihrer Heimatstadt oder höchstens in einen nahegelegenen Ort ziehen, nicht hingegen nach Ankara oder gar ins Ausland. Doch das könne sich ändern, da die türkische Regierung den Konflikt auch in kurdische Wohngebiete in Istanbul, Ankara und anderen Städten im Westen des Landes trage.
„Wenn sich der Konflikt zu einem inneren Krieg entwickelt, könnte es eines Tages nicht mehr genug sichere Rückzugsorte in der Türkei geben.“ Komme es hingegen wieder zu Verhandlungen, werden sich die Kurden laut Aussage des türkischen Politikers nicht wie bei der vorigen Gesprächsrunde mit vagen Versprechungen in einem undurchsichtigen Prozess zufriedengeben, sondern nachdrücklicher als je zuvor ihre bekannten Forderungen erheben: Nach einer Anerkennung der kurdischen Identität in der Verfassung, dem Recht auf Bildung in kurdischer Sprache und regionaler Autonomie für kurdisch dominierte Gebiete der Türkei.
Mehr zum Thema
Derzeit ist allerdings fraglich, dass Kürkcü und die HDP dann noch in der Politik sind. Justizminister Bekir Bozdag kündigte unlängst an, die parlamentarische Immunität von fünf führenden HDP-Politikern, darunter Kürkcüs und jene des nicht nur bei Kurden populären Parteichefs Selahattin Demirtas, solle wegen Unterstützung terroristischer Aktivitäten aufgehoben werden. „Parlamentarische Immunität soll nicht dazu dienen, dass Abgeordnete wie Mitglieder von Terrorbanden arbeiten können“, sagte Bozdag Ende vergangener Woche. Der Schritt gilt manchen als die Vorbereitung eines Verbots der HDP.

„Ich glaube nicht, dass die Partei verboten wird“

In der Zeitung „Sabah“, einem Propagandablatt der Regierungspartei AKP, erschien unlängst ein nicht namentlich gezeichneter, vermeintlich vom „Redaktionskollegium“ veröffentlichter Leitartikel unter der Überschrift: „Die HDP verbieten, Raum für Frieden schaffen.“ Darin hieß es: „Die türkischen Behörden müssen die HDP verbieten, eine institutionelle Unterstützerin des Terrorismus. Sie müssen verhindern, dass öffentliche Mittel genutzt werden, um türkische Bürger zu töten und sie müssen für schuldig befundene Personen aus dem Parlament werfen.“
Der Text gipfelt in der Feststellung, die Türkei habe sich verändert, „aber eine Handvoll kurdischer Nationalisten will das Land brennen sehen“. Dass diese Handvoll bei der jüngsten Parlamentswahl mehr als 5,1 Millionen Stimmen erhielt, könnte sie jedoch vor einem Verbot schützen. „Ich glaube nicht, dass die Partei verboten wird, denn das käme einer offenen Kriegserklärung an die kurdische Gesellschaft gleich,“ mutmaßt Kürkcü. Sicher ist er sich freilich nicht, denn in der Türkei geschehen jetzt Dinge, von denen man vor wenigen Jahren hoffen konnte, sie seien überwunden. Oppositionelle Medienhäuser werden enteignet, Journalisten eingeschüchtert, unbotmäßige Richter strafversetzt. Da scheint der Schritt zum Parteienverbot nicht mehr weit.
Krieg gebe es schon längst, sagt Abdullah Demirbas, einer der bekanntesten Kurdenpolitiker der Türkei, der von 2004 bis 2014 Bürgermeister des zentralen Stadtteils Sur in der Millionenstadt Diyarbakir war, der inoffiziellen Hauptstadt der türkischen Kurden. Demirbas spricht von einem „riesigen Drama“ in Sur und anderen umkämpften Orten, von Zivilisten, die unter dem Beschuss ihrer Wohnhäuser durch Panzer und Artillerie seit Wochen in Kellern lebten, von Ausgangssperren und abgeriegelten Stadtvierteln, in die selbst Ärzte nicht vorgelassen würden. Mehrere hundert Zivilisten seien bei den Kämpfen schon getötet worden. Genaue Zahlen kenne niemand, da die Kampfgebiete von der Armee abgesperrt werden.

Eine neue, diesmal kurdische Flüchtlingswelle

„Wenn der Frühling kommt, könnte die Gewalt sich steigern, und wenn sie auf Istanbul, Ankara und Izmir übergreift, könnte eine neue, diesmal kurdische Flüchtlingswelle entstehen und Millionen umfassen“, so Demirbas. Deshalb müsse Europa sich der Politik des türkischen Staates entgegenstellen, fordert er, sieht allerdings auch die bewaffneten Kurden in der Pflicht. „Beide Seiten sollten eine ehrenvolle Kehrtwende vollziehen und ihren jetzigen Standpunkt aufgeben. Das Parlament sollte eine Rolle spielen und der Verhandlungsprozess wieder aufgenommen werden. Sonst werden im Frühling weitere bewaffnete Kräfte der PKK eingreifen, und der Konflikt wird sich vertiefen.“
Dass die jungen Kurden, die jetzt auf den Straßen kämpfen, sich wieder in den demokratischen Prozess zurückholen lassen, bezweifelt Demirbas allerdings. Er saß selbst oft im Gefängnis, unter dem Vorwurf der Unterstützung einer Terrororganisation. Dort habe er junge Kurden getroffen, die jeden Glauben an demokratische Politik in der Türkei verloren hätten. „Als ich im Gefängnis einen jungen Kurden fragte, ob der demokratische Weg nicht der bessere sei, fragte er mich misstrauisch, ob ich für die Regierung arbeite und sagte: ,Wir glauben nicht an demokratische Politik. Versucht nicht, uns zu betrügen.‘ Diese jungen Leute halten es uns vor, dass wir uns im parlamentarischen System der Türkei engagieren.“
Radikal und unversöhnlich nennt Demirbas die junge Kurdengeneration und schlägt vor, dass neue Verhandlungen zwischen Kurden und der AKP von einem unabhängigen „dritten Auge“ beobachtet werden sollen, damit nicht mehr eine Seite der anderen ungeprüft einen Bruch von Vereinbarungen vorwerfen kann. Verhandlungen seien unabdingbar, denn „wenn wir dieses Problem nicht lösen, wird es eine Teilung der Türkei geben.“

„Entweder Frieden oder neue Migrationsströme“

Schon aus eigenem Interesse dürfe die EU deshalb nicht wegsehen. Europa sage derzeit ja zu allem, was die Türkei verlange und schweige zu Menschenrechtsverletzungen in Südostanatolien, doch diese Haltung könne sich gegen die Europäer kehren: „Es kann eine weitere riesige Migrationsbewegung geben.“
Die erwartet auch Filiz Kerestecioglu, eine Istanbuler Menschenrechtsanwältin und HDP-Abgeordnete, die ihre Partei zudem im Europarat vertritt. „Ich erwarte eine Migrationsbewegung sowohl innerhalb der Türkei als auch aus der Türkei nach Europa“, sagt Kerestecioglu und berichtet, wie sie bei der parlamentarischen Versammlung des Europarates gewarnt habe: „Entweder werden wir in diesem Land Frieden haben oder neue Migrationsströme.“
Die derzeit viel diskutierte Frage, ob der Konflikt heute schlimmer sei als in den neunziger Jahren, sei falsch gestellt, sagt sie. „In den achtziger Jahren kam es zu Folter im Gefängnis von Diyarbakir, in den Neunzigern verschwanden Menschen spurlos. Was diesmal anders ist, ist die Enttäuschung der Menschen nach einem zweieinhalbjährigen Friedensprozess, der vielen Hoffnungen gemacht hatte.“

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen