Die SPD unter ihrem Vorsitzenden Martin Schulz hat Europa zum Kernthema der Sondierungsverhandlungen für eine große Koalition erklärt. Das ist zum Fürchten, nicht nur für die SPD, sondern auch für die Bürger. Denn welches Europa ihm vorschwebt, und wie er dorthin kommen will, hat er als EU-Parlamentspräsident vor gut zwei Jahren im sogenannten Fünfpräsidentenbericht offengelegt.
Der Fünfpräsidentenbericht zur Härtung der Währungsunion von EU-Kommissionspräsident Juncker, Ratspräsident Tusk, Eurogruppenchef Dijsselbloem, EZB-Präsident Draghi und Parlamentspräsident Schulz wurde am 22.6.2015 vorgelegt. Vorne im Bericht behaupten sie, die Ziele seien Wohlstand und Fairness für alle. Was sie damit meinen, wird klar, wenn sie weiter hinten die Prosperität der Unternehmen, sprich deren Gewinne, mit dem gesellschaftlichen Wohl gleichsetzen. Den nationalen Parlamenten sollen Kompetenzen weggenommen werden. Zum Ausgleich wird mehr demokratische Kontrolle auf Brüsseler Ebene versprochen. Tatsächlich aber werden nur zusätzliche oder genauer terminierte unverbindliche Diskussionsrunden in Aussicht gestellt. Für die Demokratie verheißt das ncihts Gutes. Aber speziell für die Arbeitnehmer soll es noch dicker kommen, wenn es nach Martin Schulz dem Europapolitiker geht.
Aushöhlung der Tarifautonomie für niedrigere Löhne
Neu an dem Bericht war das Drängen, Europa mit einem Netz von „Wettbewerbsfähigkeitsräten“ zu überziehen. Sie sollen dazu beitragen, dass die angebotsorientierte Politik der EU überall durchgesetzt wird. In den Räten sollen Technokraten sitzen, die Kraft ihres Expertentums Lohnleitlinien festlegen. Sie sollen also bestimmen, wo der korrekte Ausgleich zwischen Arbeitnehmerinteressen und Arbeitgeberinteressen zu finden ist. Bisher hatte man die Vorstellung, dass das die Tarifpartner diesen suchen und finden. In Deutschland ist das sogar grundgesetzlich so vorgesehen. Aber künftig sollen nach den Vorstellungen der fünf Präsidenten irgendwelche „Experten“ Lohnleitlinien festlegen. Dass es dabei vor allem darum geht, die Löhne zu drücken, stellt der Bericht in dankenswerter Offenheit klar. Löhne werden darin ohne Einschränkung als reiner Kostenfaktor und Problem für die Wettbewerbsfähigkeit behandelt, ohne jede Berücksichtigung der Tatsache, dass sie die Grundlage für den im Vorwort betonten Wohlstand „aller Bürger“ sind.
Die Wettbewerbsräte sollen nicht etwa nur die öffentliche Meinung im Sinne der Arbeitgeber beeinflussen. Die Technokraten der EU-Kommission sollen die nationalen Lohnleitlinien der Technokraten in den Wettbewerbsräten durchsetzen können. Denn eine weitere Maßnahme der Präsidentenstrategie besteht darin, das Verfahren zur Feststellung makroökonomischer Ungleichgewichte zu verschärfen und gleichzeitig zur „Förderung von Strukturreformen“ zu nutzen. Die Lohnpolitik wird also zum makroökonomischen Ungleichgewicht erklärt und sanktioniert, wenn die Löhne nicht moderat genug steigen oder nicht genug fallen.  Frei von parlamentarischer Kontrolle könnte die Brüsseler Technokratie dann in jedem Land – oder besser in jedem kleinen und machtlosen oder verschuldeten Land - Druck ausüben, dass den Wünschen der Arbeitgeber nachgekommen wird. Denn, ob die Tarifpartner sich an die Lohndämpfungsleitlinie halten, soll mitbestimmen, ob die Kommission ein Verfahren wegen makroökonomischer Ungleichgewichte gegen ein Land beginnt.
Schulz, Juncker und die anderen drei wollen durchsetzen, dass die Länder von einer verteilungs- und preisneutralen Lohnpolitik durch die Sozialpartner abrücken. Stattdessen soll die Lohnkostenentwicklung an jene in den wichtigsten Exportländern angeglichen werden. Eine schlechte Lohnentwicklung in einem Land, wie das vor der Krise insbesondere in Deutschland und nun in den Krisenstaaten der Fall ist, soll also erklärter Maßen zu Abwärtskorrekturen überall führen.
Die Fokussierung auf die sogenannte Wettbewerbsfähigkeit, die sich in hohen Gewinnen für Unternehmen messen lässt, ist in einem großen Wirtschaftsraum wie der EU, die nur 12 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung exportiert, völlig widersinnig. Zumal der Euro-Wechselkurs flexibel ist. Man muss also jederzeit damit rechnen, dass eine Euro-Aufwertung einen Gewinn an Wettbewerbsfähigkeit laufend wettmacht. Die Binnenexporte innerhalb der EU kann zwar jedes Land durch Senkung der Löhne und sonstige Maßnahmen zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit erhöhen. Aber es ist offenkundig, dass dabei immer andere Länder das verlieren, was die einen gewinnen.
Umdeutung der Krise um Austerität und Demokratieabbau zu begründen
Schulz und seine Präsidentenkollegen deuten die Geschichte der Finanz- und Eurokrise um in eine Krise, die wegen zu ausgabenfreudiger Regierungen entstanden, beziehungsweise eskaliert ist. Sie tun das erkennbar in täuschender Absicht. In einer Präsentation der vier Präsidenten, noch ohne Schulz, der erst später dazugeholt wurde, für den informellen EU-Rat vom 12. Februar 2015 hieß es noch (meine Übersetzung und Hervorhebungen):
Zu Anfang war die Krise vor allem eine Finanzkrise, die im US-Subprimemarkt ausbrach und sich schnell über das global vernetzte Finanzsystem ausbreitete, einschließlich der europäischen Banken und sonstigen Finanzinstitutionen, insbesondere in den Ländern, wo die guten Zeiten der ersten Dekade des Euro zu Finanz- und Immobilienblasen geführt hatten. Für den Euroraum von besonderer Bedeutung war der negative Rückkopplungseffekt zwischen Bankschulden und Staatschulden: als Banken, die von zu großer Systemrelevanz waren, um scheitern zu dürfen, in finanzielle Schwierigkeiten gerieten und sich an ihre Staaten wandten und um Hilfe baten, konnte die Stabilität des Bankensystems nur zu Lasten der öffentlichen Finanzender betreffenden Staaten garantiert werden. (...) Daher wurde in diesen Ländern aus einer Bankenkrise schnell eine Krise der öffentlichen Finanzen, mit direkten Auswirkungen auf die Wirtschaft. Nicht zuletzt kann man auch sagen, dass die Krise eine Krise der Märkte war.
Daraus wurde im endgültigen Bericht (mit Schulz) die folgende völlig verdrehte und verzerrte Darstellung:
Eine der Hauptlektionen der Krise war, dass die (nationalen) Haushaltspolitiken eine Angelegenheit von vitalem gemeinsamem Interesse in einer Währungsunion sind. Nicht tragfähige Haushaltspolitiken gefährden nicht nur die Preisstabilität in der Währungsunion, sie beschädigen auch die Finanzstabilität, indem sie Ansteckung zwischen Mitgliedstaaten und Fragmentierung der Finanzmärkte verursachen.
Die zentrale Rolle der Banken und das Versagen der Finanzmärkte bei der Ausfüllung der ihnen zugedachten Rolle, wurden aus den Lehren der Krise gestrichen. die Verursachungskette von Finanzmarktkrise zu zerrütteten Staatsfinanzen wurde umgedreht.
„Verantwortliche nationale Haushaltspolitik ist daher der Grundpfeiler der Währungsunion“, auf den es sich zu konzentrieren gelte, heißt es auf Basis dieser absichtsvoll verfälschten Krisenanalyse.
Die Vorgeschichte
Es gab schon einen Vierpräsidentenbericht, veröffentlicht 2012, bei dem der Präsident des ohnmächtigen EU-Parlaments nicht dabei war. Und auch diesmal hielt ursprünglich niemand das Parlament für wichtig genug, um bei der Weiterentwicklung der EU mitzureden. Der Euro-Gipfel am 24. Oktober 2014 beauftragte den Präsidenten der EU-Kommission wieder nur mit den Präsidenten von Eurogruppe, EU-Rat und EZB, einen weiteren Bericht über die „Komplettierung“ der Währungsunion zu schreiben. Irgendwann nach dem 12. Februar 2015 kam  Juncker dann auf die Idee, Parlamentspräsident Schulz beizuziehen und die anderen drei hatten nichts dagegen, weil Schulz ja so handzahm ist.  Bei der Abfassung der „Analytical Note“, die Juncker, Ratspräsident Tusk, EZB-Präsident Draghi, und Eurogruppenchef Dijsselbloem dem informellen EU-Gipfel am 12. Februar 2015 präsentierten, war  Schulz noch nicht beteiligt. Die vier anderen setzten allein die Agenda des Berichts.
Noch in einem Papier der Kommission vom 21. April 2015  ist von den „vier Präsidenten und dem Präsidenten des EU-Parlaments“ die Rede. Da er das fünfte Rad am Wagen darstellt, wird Schulz folgerichtig im Fünfpräsidenenbericht als letzter genannt, obwohl er im Alphabet vor Tusk käme. Sein Job war es nur, den Anschein von demokratischer Legitimität zu geben. Irgendjemand muss beim informellen Eurogipfel gemerkt haben, dass in der Präsentation von Juncker und Co. die Wortgruppe Demokratie/demokratisch nicht vorkam. Kein einziges Mal. man darf daher annehmen, dass die Nebelkerzen in Sachen demokratische Kontrolle vor allem auf Schulzens Wirken zurückgehen.
Aufmüpfige Parlamentarier werden von Schulz eingehegt
Das EU-Parlament befasste sich parallel zu den fünf Präsidenten in Eigenregie mit der Komplettierung der Währungsunion und arbeitete ebenfalls einen Bericht dazu aus, den sogenannten Berés-Bericht, nach der Berichterstatterin Pervenche Berés. Junckers politische Alliierte im EU-Parlament schafften es allerdings die letztendliche Verabschiedung des Berichts im Parlament so lange zu verzögern, dass er erst am 24. Juni, zwei Tage nach dem Fünfpräsidentenbericht verabschiedet wurde. Das war wichtig für Schulz, denn formal hatte er auf diese Weise keine Willensäußerung seines Parlaments zu beachten. Aber die Haltung der Parlamentarier war natürlich für den Parlamentspräsidenten kein Geheimnis. Und diese Haltung missachtete er in zentralen Punkten.
Am Wichtigsten: Der Berés-Bericht fordert Mitbestimmungsrechte („Co-Decision“) für das EU-Parlament. Im Fünfpräsidentenbericht ist zwar viel von größerer demokratischer Legitimität die Rede. Tatsächlich vorgeschlagen werden aber ausschließlich unverbindliche Gesprächsrunden mit Parlamentariern der EU und der nationalen Parlamente.
Im Berés-Bericht wird der Ausdruck „Strukturreformen“ durchgängig mit den Eigenschaftswörtern „nachhaltig“ und „sozial ausgewogen“ versehen. Im Fünfpräsidentenbericht sucht man diese Zusätze vergeblich. Sie würden der Stoßrichtung des Berichts auch entgegenstehen. Außerdem enthält der Berés-Bericht einen eigenen Punkt zur „überragenden Bedeutung der zunehmenden Ungleichheit in Europa“ und die Forderung, dieser durch die Betonung der Schaffung hochwertiger Jobs zu begegnen. Das Parlament drängt auf „mehr wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt, wozu der Europäische Sozialfonds und der Europäische Strukturfonds gestärkt werden sollen, mit dem Ziel „Arbeitsplätze mit Rechten“ zu schaffen. Eine soziale Dimension soll gesichert werden, mit dem Ziel, Europas soziale Marktwirtschaft zu erhalten und insbesondere das Recht auf kollektive Verhandlung von Löhnen und Arbeitsbedingungen zu wahren, sowie Mindestlöhne oder gleichwertige Maßnahmen im Kampf gegen Armut und sozialen Ausschluss.
Das ist ein Protest des Parlaments gegen die tatsächlich von der EU-Kommission verfolgte Politik, die auf Abschaffung oder Absenkung von Mindestlöhnen, Schwächung der Gewerkschaften und Zurückdrängen tarifvertraglicher oder allgemeinverbindlicher Lohnfestlegungen abzielt und damit auch schon beträchtlichen Erfolg hatte. (Siehe: Lohnpolitische Paradigmenwechsel in der EU)
In dem vom Parlamentspräsidenten und jetzigen SPD-Chef mitgetragenen Fünfpräsidentenbericht dagegen, kommt weder das Wort Ungleichheit, noch die Qualität von Arbeitsplätzen vor. Eine soziale Dimension gibt es nicht, denn das Interesse der Arbeitnehmer wird gleichgesetzt mit dem Gewinninteresse der Unternehmen.
Außerdem verlangte das Parlament eine Überprüfung der Entscheidungsfindung in der ungemein wichtigen aber rein informellen Eurogruppe der Finanzminister des Euroraums, wo es keine Geschäftsordnung, keine Protokolle und keine demokratische Kontrolle gibt. Weitab davon, diesem Begehren irgendwie Rechnung zu tragen, wollen die fünf Präsidenten einer unreformierten Eurogruppe eine noch zentralere Rolle bei der Entscheidungsfindung auf europäischer Ebene zuweisen. Diesen Plan stellen sie zynischer Weise ausgerechnet im Abschnitt dar, den sie mit „demokratische Kontrolle“ betiteln.
Fazit: Wenn Martin Schulz in einer großen Koalition die europapolitische Agenda weiterverfolgen darf, die er im Fünfpräsidentenbericht skizziert hat, dann müssen sich die Arbeitnehmer warm anziehen. Dann werden zudem die deutschen Volksvertreter aller Ebenen zugunsten austeritätsversessener europäischen Technokraten entmachtet. Ob die SPD-Basis das wirklich will? Ob es wirklich genug Wähler gibt, die Schulzens Partei dafür wählen? Ich zweifle.
Hinweis: Dieser Beitrag beruht auf ausführlicheren Darstellungen, die ich kurz nach Vorstellung des Fünfpräsidentenberichts 2015 geschrieben habe: