Lange Zeit züchteten Forscher neue Pflanzensorten mit Hilfe radioaktiver Strahlung. Sie wollten Pflanzen schaffen, die robuster waren und mehr Ertrag brachten. Die Nachfahren dieser Mutanten essen wir heute noch.
Auf einem kleinen Acker tief im Bayerischen Wald vergrub Hans Steinhart einst Kartoffelknollen und säte Getreide. Was er erntete, waren Mutanten, genau wie er es erhofft hatte. Bevor er das Feld bestellte, war er zum Forschungsreaktor in Garching bei München gefahren und hatte das Saatgut in einer Tüte verpackt einige Minuten lang im bläulich schimmernden Reaktorbecken versenkt.
Das geschah Anfang der 1960er Jahre, als die Menschen noch an die friedliche Nutzung der Atomkraft glaubten. Steinhart, heute emeritierter Professor für Lebensmittelchemie der Universität Hamburg, war damals Werkstudent an der bayerischen Landesanstalt für Pflanzenbau. Die staatlichen Pflanzenzüchter nutzten radioaktive Strahlen, um Mutationen im Erbgut von Knollen und Körnern zu erzeugen. Sie wollten neue Pflanzen schaffen, die robuster waren und mehr Ertrag brachten. Und sie hatten Erfolg. Steinhart vermutet, dass noch heute manche Kartoffel- und Getreidesorten mutierte Gene aus den nuklearen Experimenten von damals enthalten.
Mutagenese nennen Züchter den Versuch, die Zahl von Erbgutveränderungen einer Pflanze künstlich hochzuschrauben. Genmutationen entstehen permanent und ohne menschliches Zutun in jedem Organismus. Die meisten werden umgehend von zelleigenen Reparaturmechanismen ausgebügelt. Die übrigen sind der Rohstoff der Evolution. Ohne Mutationen entstünden keine neuen Arten, und Lebewesen könnten sich nicht an neue Umweltbedingungen anpassen, sondern müssten zugrunde gehen.
Erzeugt man künstlich viele Mutationen, entstehen auch mehr neue Pflanzenarten, so die Idee der Mutagenese. Die Veränderungen lassen sich mit Chemikalien steigern oder eben mit ionisierenden Strahlen. Beides kann Genveränderungen auslösen. Die Nachfahren der behandelten Pflanzen sind dabei frei von Strahlung.
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Als Steinhart mit seinen damaligen Chefs im Dienst-VW-Bus von München zu dem gepachteten Feld im Bayerischen Wald knatterte, war die Idee von der Strahlenmutagenese bereits 60 Jahre alt. 1901 spekulierte der niederländische Botaniker Hugo de Vries über künstliche Mutationen mit dem Ziel, neue und bessere Arten zu schaffen.
Sechs Jahre zuvor hatte Wilhelm Röntgen mit den nach ihm benannten Strahlen, das erste Werkzeug für diesen Zweck entdeckt. Aber es brauchte noch27 Jahre bis der amerikanische Genetiker Lewis Stadler damit nachweislich die erste Pflanze mutierte. 1934 kam die erste Strahlenmutante auf den Markt - eine Tabaksorte aus den niederländischen Kolonien. Im selben Jahr schrieb der russische Botaniker Iwan Mitschurin in der Tageszeitung Prawda, dass er kein anderes Bedürfnis habe, als mit Hilfe der Strahlenenergie "die Erde zu erneuern". Er arbeitete unter anderem an frostsicheren Pfirsichen. Bald setzten auch die Nazis auf Mutanten. Dann fielen die Bomben auf Hiroshimaund Nagasaki.
1953 hatte sich die Welt noch nicht von den Bildern der Atomexplosionen erholt, als der US-Präsident Dwight Eisenhower seine Vision von der friedlichen Nutzung der Kernenergie vor den Vereinten Nationen vortrug. Unter dem Motto "Atoms for Peace" sollte die Kraft des Atoms bei der Energieerzeugung sowie im Kampf gegen Parasiten, gegen Krebs und gegen den Hunger helfen. Aus Eisenhowers Initiative erwuchs vier Jahre später die internationale Atomenergie-Behörde IAEA in Wien, die noch heute zusammen mit der Welternährungsorganisation FAO in der Sektion "Nukleartechnik in Ernährung und Landwirtschaft" ein Pflanzenzuchtprogramm betreibt. Die Blütezeit der sogenannten Atomgärten brach an.
Heute hätten Unternehmen es schwer, "nuklearen Reis" oder "atomar angereicherte Tomaten" zu verkaufen. Ende der 1950er Jahre waren das mancherorts Verkaufsschlager. Der Farmer C.J. Speas im US-BundesstaatTennessee baute mit Genehmigung der Aufsichtsbehörden eine Bestrahlungskammer auf den Hof, die er am Wochenende gern Besuchern zeigte.
In ihrer Begeisterung für das Atom gründete die Autorin Muriel Howorth 1959die "Atomic Garden Society", deren Mitglieder bestrahltes Saatgut pflanzten und systematisch protokollierten, was dabei herauskam. Nicht alles über Atomkraft und die "wundervollen Dinge, die man damit tun kann" zu verstehen, sei wie ein Leben im Mittelalter, schrieb sie. Howorth wollte Frauen "aus der Küche in das atomare Zeitalter führen".
In Illustrierten bewarben Züchter bestrahltes Saatgut. Der Anbieter Edmund Scientific etwa bot Pakete mit Saaten an, die zuvor bestrahlt worden waren. So konnte jeder Bürger in seinem Garten einen Eindruck davon bekommen, was zur selben Zeit in den großen Nuklearforschungszentren Amerikas, Europas und der Sowjetunion passierte. Dort versenkten die Ingenieure weitab von sonstigen Forschungseinrichtungen und Wohnhäusern radioaktive Kobaltquellen in Bleihüllen im Boden. Per Fernsteuerung konnten sie die Abschirmung der Strahlenquelle öffnen und die umliegenden Pflanzgärten bestrahlen.
Freude über bananenförmige Tomaten
Während sich Privatleute in ihren Gärten über bananenförmige Tomaten und andere Kuriositäten freuten, lösten die Wissenschaftler in den Kobalt-Plantagen allerdings Tod und Verheerung aus. Nur in den äußeren Beeten, weit entfernt von der Strahlenquelle, überlebten einige Pflanzen.
Bestrahlt wurde die gesamte Palette der wichtigsten Nahrungspflanzen. Auf den Markt gelangten unter anderem mutierter Reis, Weizen, Hafer, Raps, Mais, Soja, Erdnüsse, Bohnen viele Obst- und Gemüsesorten und Oliven. Die pilzresistente Pfefferminz-Sorte "Todd's Mitcham" ist ein Ergebnis der Zuchtversuche mit der Strahlenkanone. Nahezu die gesamte globale Pfefferminzölproduktion geht auf eine Mutante zurück. Auch die Grapefruitsorten "Star Ruby" und "Ruby Red", die heute oft in Bioläden verkauft werden, sind Nachfahren aus Atomgärten. Fast die gesamte in Europa eingebrachte Gerstenernte trägt eines von zwei Genen, die vor Jahrzehnten durch Strahlen verändert wurden und dafür sorgen, dass die Ähren auf kürzeren und stabileren Stängeln wachsen.
Mehr als 3000 per Strahlenmutation erzeugte Sorten seien seit der Gründung der IAEA auf den Markt gekommen, sagt Pierre Lagoda der die Abteilung für Pflanzenzucht und Genetik der Behörde leitet. Er schätzt die wirkliche Zahl weit höher, da Züchter ihre eigenen Strahlengewächse nicht eigens registrieren lassen müssen.
Anders als Gentechnik zählt die Mutationszüchtung zur klassischen Züchtung, die keinen strengen Zulassungsprotokollen folgen muss. Deshalb lässt sich heute auch nicht mehr nachvollziehen, welche Gene auf die nuklear beschleunigte Evolution zurückgehen. Interessante Gewächse aus den Versuchen im Bayerischen Wald verkauften Steinhart und seine Kollegen zum Beispiel einfach an Züchter in der Umgebung. Danach verliert sich die Spur der mutierten Gene in einigen neuen regionalen Sorten.
Die Atomgärtnerei ist seit den 1970er Jahren aus der Mode gekommen. Ein paar aktive Anlagen gibt es aber noch auf der Welt. Dazu zählt das Institut für Strahlenzucht in der japanischen Präfektur Ibaraki. Nach eigenen Angaben hat es mehr als 100 direkt nutzbare Pflanzenmutanten hervorgebracht und weitere200, die über Kreuzungen mit anderen Sorten vermischt wurden.
Das Zeitalter der Strahlenzucht ist also noch nicht vorbei. Lagoda sieht sogar eine Renaissance dieser Methode. Heute findet sie aber überwiegend im Labor statt, wo Saatgut oder Pflanzenteile mit kleineren Bestrahlungsgeräten traktiert werden. "Wir schaffen nichts, was nicht auch in der Natur vorkommen könnte", sagt Lagoda. "Wir beschleunigen nur die natürliche Evolution."
Aus den IAEA-Labors bei Wien stammen Getreidesorten, die noch in 5000Metern Höhe wachsen sowie einige salztolerante Pflanzen. Eines der momentan dringendsten Projekte ist die Zucht einer Weizensorte, die gegen den Pilz Ug99 resistent ist. Dieser Parasit breitet sich rasant in Afrika und im Mittleren Osten aus. Auch Auftragsarbeiten übernimmt das Institut. Im vergangenen Jahr ließ ein deutscher Züchter dort 1700 Proben von Zierpflanzen mit Strahlen behandeln.
Strahlenbeschuss kann Tausende Mutationen auslösen, auch in Genen, die man nicht verändern wollte. Per genetischem Ausleseverfahren können Züchter heute herausfinden, welches Gen nützliche und welches wahrscheinlich schädliche Veränderungen durch den Beschuss bekommen hat. Trotz dieser Modernisierung haben deutsche Züchter den Strahlen weitestgehend abgeschworen. Allenfalls Zierpflanzen bekommen gelegentlich ein paar Mikrosievert ab.
Etwa jede vierte durch Strahlen mutierte Sorte stammt aus China und aus chinesischen Raketen. Seit Menschen ins Weltall fliegen, nehmen sie gelegentlich Saatgut mit, auch wenn unklar ist, warum die kosmische Strahlung bessere Mutationen schaffen soll als irdisches Kobalt. Gleichwohl berichten chinesische Forscherteams von neuen Pflanzen, wie etwa einer Sojabohne, der das Unkrautvernichtungsmittel Glyphosat nichts anhaben kann.
Unter Pflanzenzüchtern gilt heute die grüne Gentechnik als sinnvollere Methode, um neue Sorten zu entwickeln. Dabei werden gezielt einzelne Gene ein- oder ausgebaut. Für Hans-Jörg Jacobsen, Professor für Pflanzenbiotechnologie der Universität Hannover, sind die Nachteile der Atomgärten und Weltraumpflanzen klar: "Harte Strahlung verursacht in der Regel Mutationen, die zum Verlust von Genen führen."
Man solle sich vorstellen, einen beliebigen Chip aus seinem Laptop zu entfernen, sagt Jacobsen, "sehr unwahrscheinlich, dass er dadurch schneller wird, oder?" Auch Jens Lübeck vom norddeutschen Kartoffelzüchter Saka sieht die Bestrahlung kritisch: "So eine mutagenisierte Pflanze sieht erbärmlich aus. Es sind viele Rückkreuzungen nötig, um die unerwünschten Mutationen wieder zu entfernen."
Auch Hans Steinhart wundert sich, dass den Deutschen heute Pflanzen mit vielen unbekannten Mutationen lieber sind als Gewächse mit künstlich eingebauten Genen. "Wie würden die Menschen reagieren, wenn heute jemand unsere Experimente wiederholen würde?" Vermutlich ähnlich wie bei Versuchen mit Gentechnik: Dort werden nicht nur neue Gewächse geerntet, sondern auch Gewalt.
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