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Montag, 16. Mai 2016

Die Griechenland-Hilfen haben auch eine geostrategische Dimension

Griechenland-KriseGrexit? Kein Thema mehr

Die Zeit für Griechenland wird wieder mal knapp: Spätestens im Juli braucht Athen frisches Geld. Also alles wie im vergangenen Jahr? Nein, in Wahrheit ist es ganz anders: Griechenland wird nicht mehr aus der EU fliegen! Eine Analyse.
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© AFPBilder aus der Vergangenheit: Molotowcocktails bei Ausschreitungen in Athen im November 2015.
Mitte Januar trafen Alexis Tsipras und Wolfgang Schäuble in Davos aufeinander. Was für ein Termin! Der griechische Ministerpräsident und der deutsche Finanzminister – jener Mann, der ein halbes Jahr zuvor vorgeschlagen hatte, dass Athen außerhalb der Eurozone gesundet. Schäuble, die Hassfigur Nummer eins in Griechenland, der Vampir, der den Griechen das Blut aus den Adern saugt. Und Tsipras, der Überlebenskünstler, der sich erfolgreich gegen den Grexit gestemmt hatte in jener dramatischen Gipfelnacht von Brüssel. Wie würde das werden, dieses Treffen der Kontrahenten aus dem Sommer auf der Bühne des Weltwirtschaftsforums?
Es wurde ganz zahm. Die Zukunft Europas, das war nicht mehr die Frage, ob Griechenland im Euro bleibt, ob die gemeinsame Währung zerfällt und mit ihr womöglich die gesamte Union. Die Gefahr für den Zusammenhalt kam nun von außen: Hunderttausende Flüchtlinge aus aller Welt, die über die Ägäis nach Europa zogen, ein Strom, der auch im Winter nicht abreißen wollte. Tsipras machte deutlich, dass es sich nicht um ein Problem allein seines Landes handelte, sondern um eine globale Herausforderung. Er forderte Solidarität von seinen Partnern.
Neben ihm auf dem Podium saß Manuel Valls, der französische Regierungschef, und rutschte schon ganz unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Dann sprach Schäuble. Es sei so, wie Tsipras gesagt habe, „es ist eine Schande für Europa, wenn wir Europa zu einer Festung machen“. Milliarden müssten in die Herkunftsländer investiert werden. Schäuble warb für einen neuen Marshallplan und eine Koalition der Willigen, die Flüchtlinge aufnehmen solle. Die ganze Lage, stellte er fest, „erfordert natürlich Solidarität mit den Ländern, die Außengrenzen haben“.

Die Zeit ist mal wieder knapp

Tsipras und Schäuble saßen weit auseinander auf dem Davoser Forum, aber sie waren in der Sache eng zusammengerückt. Das lag nicht an der Finanzpolitik – die Griechen hatten wieder einmal eine Frist in ihrem Reformprogramm verstreichen lassen. Dessen erste Überprüfung sollte im Dezember abgeschlossen sein, sie ist die Voraussetzung dafür, um eine zweite Tranche aus dem 86 Milliarden Euro schweren Hilfsprogramm auszuzahlen. Aber es gab im Januar viel Wichtigeres: Fieberhaft wurde überlegt, wie der Flüchtlingsstrom an der Außengrenze gestoppt und in geordnete Bahnen gelenkt werden konnte.
Nun ist es Mai geworden, und Europa hat diesen Kraftakt geschafft, vorerst. Die Balkan-Route ist dicht und, wichtiger noch, auch der Seeweg über die Ägäis. Griechenland hat dafür im Eilverfahren Gesetze geändert, Auffanglager gebaut, den Grenzschutz modernisiert, Vereinbarungen mit der Türkei getroffen. Aber es gibt kein Durchatmen für die Regierung Tsipras. Die Finanzpolitik kehrt zurück, es geht immer noch um die „erste Überprüfung“, die Geldgeber drücken aufs Tempo. Und die Zeit wird wieder mal knapp: Im Juli braucht Athen frisches Geld, wenn es nicht abermals in ungeordnete Verhältnisse stürzen will.

Schicksalsgemeinschaft Europa

Sieht aus wie letztes Jahr, klar. In Wahrheit ist aber alles ganz anders. Der Grexit ist kein Thema mehr. Das versichern alle Akteure, auch jene, die vor einem Jahr damit liebäugelten. „Jetzt haben wir uns entschieden, dass wir Griechenland die Chance geben“, sagte Schäuble gerade dem „Handelsblatt“. Aus seinem Ministerium kommen neue Töne. Die Flüchtlingskrise habe die Griechen diszipliniert. „Sie tun jetzt das Richtige, sie haben Hilfe angenommen, sie denken anders“, sagt einer, der schon harsch über Athen geurteilt hat. Er schwärmt beinahe von Euklid Tsakalotos, dem griechischen Finanzminister. Der sei zwar Marxist, gewiss, aber er habe immer gute Argumente, könne sich in andere hineinversetzen und halte sich an Regeln. Anders formuliert: Tsakalotos ist das Gegenteil von Varoufakis, seinem Vorgänger, der die Finanzminister zur Weißglut trieb. Doch nicht nur die Griechen haben sich verändert.
Wenn Klaus Regling, der Direktor des Europäischen Stabilitätsmechanismus – jenes ESM, der die Griechen mit Krediten versorgt –, vor einem Jahr mit Investoren sprach, dann ging es nicht nur um Finanzpolitik. Regling wies auch auf die geostrategische Bedeutung Griechenlands hin, darauf, dass man das Land nicht einfach anderen Mächten überlassen dürfe. Manche belächelten ihn dafür als „Gutmenschen“. Jetzt lächelt niemand mehr. Eine Erkenntnis hat sich durchgesetzt, sogar in der Finanzwelt: Ordnung kann es in Europa nicht geben, indem man Staaten rauswirft. Ordnung muss gemeinsam geschaffen werden. Im Finanzsystem, an den Grenzen. Es gibt ein Wort dafür, es klingt ein wenig altmodisch, aber es gilt noch: Schicksalsgemeinschaft Europa.

Bröckelnde Mehrheit

Natürlich gibt es weiterhin viele Konflikte, die Flüchtlingskrise ist so wenig gelöst, wie Griechenland wirtschaftlich auf eigenen Beinen steht. Aber die Bereitschaft aus dem letzten Sommer, ein EU-Mitgliedsland einfach mal über die Klippe zu stoßen und dann zu schauen, was passiert – diese Bereitschaft, mit der Ökonomen und Eurogegner auftrumpften (aber nie Schäuble), die gibt es nicht mehr. Europa ist ernster geworden, nüchterner, klüger. Man konnte das spüren am Anfang dieser Woche. Da drohte wieder ein gefährliches Gewitter heraufzuziehen, in Athen und in Brüssel.
Das griechische Parlament musste über Änderungen am Renten- und Steuersystem abstimmen, der politisch heikelste Teil der Vereinbarungen mit den Gläubigern. Es ging um ein einheitliches Rentensystem: Alte Privilegien laufen aus, die Leute müssen länger arbeiten und mehr einzahlen, werden aber weniger herausbekommen. Bei der Einkommensteuer: geringere Freibeträge für alle, höhere Sätze für Gutverdiener. Ein Volumen von insgesamt 5,4 Milliarden Euro, drei Prozent der Wirtschaftsleistung, verteilt auf zwei Jahre. Die Gewerkschaften lähmten das Land mit einem Generalstreik, sie brachten Tausende Anhänger auf die Straße. Anarchisten warfen Steine und Brandsätze. Die Opposition war nicht mehr bereit, einer Regierung zu helfen, die in Umfragen tief gestürzt ist. Und Tsipras hatte nur eine Mehrheit von drei Stimmen.

Vor dem Treffen wurden Risse sichtbar

Der Regierungschef warb vor der Abstimmung in seiner Syriza-Fraktion um Unterstützung. „Ohne entschiedene und gut durchdachte Eingriffe in unser Versicherungssystem wird es in ein paar Jahren zusammenbrechen“, sagte Tsipras. Falls sich jemand immer noch Illusionen machte, fügte er hinzu: „Ich meine nicht, dass wir uns in ein paar Jahren mit weiteren Kürzungen konfrontiert sehen. Ich meine, dass wir in ein paar Jahren mit der Aussicht konfrontiert werden, die Renten nicht einmal mehr garantieren zu können.“ Spricht so ein Linkspopulist? Im letzten Jahr redeten die Geldgeber so, und die Leute von Syriza hielten sich die Ohren zu. Im Parlament sagte Tsipras vor der Abstimmung: „Wir sind entschlossen, dafür zu sorgen, dass Griechenland wieder auf eigenen Beinen stehen kann – um jeden Preis.“ Er bekam seine Mehrheit, alle 153 Stimmen, am Sonntag kurz vor Mitternacht. Kein Donnern, kein Blitzen.
Am Montag kamen die Finanzminister der Eurogruppe in Brüssel zusammen. Jeroen Dijsselbloem, der Vorsitzende, hatte zum ersten Sondertreffen in diesem Jahr geladen. Er ging damit ein Risiko ein, nicht bloß wegen des unsicheren Ausgangs der Abstimmung in Athen. Vor dem Treffen wurden Risse sichtbar. Der französische Finanzminister Sapin drang auf Schuldenerleichterungen für Griechenland, der deutsche Kollege Schäuble mauerte. Der größte Riss tat sich zwischen den europäischen Institutionen – der EU-Kommission, der EZB, dem ESM – und dem Internationalen Währungsfonds auf.

Ein Schuldenschnitt verstößt gegen die europäischen Verträge

Der IWF ist Teil der alten „Troika“, aber er hat sich bisher nicht am dritten Hilfsprogramm für Griechenland beteiligt. Sein Vorwurf: Die Europäer sind zu optimistisch. Die europäischen Institutionen schätzen, dass Athen mit den vereinbarten Reformen bis 2018 einen Primärüberschuss im Haushalt von 3,5 Prozent der Wirtschaftsleistung erzielt. Der IWF rechnet bloß mit 1,5 Prozent. Das ist ein wichtiger Unterschied – denn vom Überschuss hängt ab, ob das völlig überschuldete Land Zinsen zahlen und Kredite abstottern kann. Der IWF darf nur in ein Programm einsteigen, wenn die sogenannte Schuldentragfähigkeit gegeben ist. Der Fonds stellte die Europäer vor die Wahl: Entweder muss Athen sich noch mehr anstrengen mit Reformen, oder die Gläubiger müssen einen Teil der Schulden streichen.
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Für den Währungsfonds sind solche Forderungen eine leichte Sache. Er muss die Reformen ja nicht politisch durchsetzen, und er würde auch keinen Cent verlieren. Die Europäer schon – deshalb sind alle gegen einen Schuldenschnitt, auch Franzosen und Italiener. Er würde sich nämlich direkt auf ihre nationalen Haushalte auswirken. Berlin macht grundsätzliche Vorbehalte geltend: Ein Schuldenschnitt verstößt gegen die europäischen Verträge. Die Griechen schert das nicht, sie fordern seit langem einen „Haircut“. Aber sie wollen auf keinen Fall noch tiefere Einschnitte in ihr Rentensystem. Schwierig, schwierig.

Die Parlamente will man meiden

Kurz vor dem Treffen der Eurogruppe erhielt jeder Finanzminister Post von der IWF-Direktorin Christine Lagarde. Reformen, Schuldenerleichterungen und neue Kredite „müssten nun gleichzeitig diskutiert werden“, stand da zu lesen. Die Europäer wollten das auseinanderhalten: Erst die Reformen, dann die nächsten Auszahlungen und nach dem Sommer 2018, wenn das laufende Programm erfolgreich abgeschlossen ist, darüber reden, wie die griechischen Schulden auf lange Sicht bewältigt werden können.
Als die Finanzminister am Montag in Brüssel eintrafen, sah kaum jemand, wie dieser Knoten durchgehauen werden könnte. Doch dann bewegten sich alle, am meisten Schäuble, und so wurde immerhin eine Lösung skizziert. Die Griechen müssen demnach einen Ausgleichsmechanismus für den Fall schaffen, dass sie hinter dem vereinbarten Haushaltsüberschuss zurückbleiben. Athen will das mit globalen Haushaltskürzungen und zusätzlichen Steuern erreichen. Für Tsipras ist wichtig, dass er die Maßnahmen per Dekret durchsetzen kann, ohne ins Parlament gehen zu müssen. Die europäischen Geldgeber buchstabieren ihrerseits genauer aus, wie die griechische Schuldenlast beherrschbar bleibt. Es gibt dafür einen Werkzeugkasten: langfristig stabile Zinsen, späterer Tilgungsbeginn, längere Laufzeiten. Und es gibt eine Grenze: Die Bundesregierung will auch nicht den Bundestag befassen. Das müsste sie, wenn die Risiken für den heutigen Bundeshaushalt steigen.

Der IWF als Garant harter Reformen

Es ist nun an den Finanztechnikern, aus diesen Vorgaben ein Programm für die nächsten Jahre zu schnitzen. Bis zum 24. Mai soll es fertig sein, dann kommen die Minister abermals zusammen. „Wir kriegen das hin“, heißt es in Berlin und Brüssel. Doch bleibt immer noch ungewiss, ob der Währungsfonds am Ende mitgeht und in das Hilfsprogramm für Griechenland einsteigt. Die Europäer würden so finanziell entlastet, darauf kommt es aber gar nicht an. Das im Sommer vereinbarte Programm ist auch ohne den IWF solide finanziert. Es geht vielmehr um politische Interessen.
Mehrere Staaten haben es zur Bedingung gemacht, dass der IWF bei einem Hilfsprogramm an Bord ist, darunter Finnland, die Niederlande und Deutschland. Die Unionsfraktion im Bundestag stimmte allen Hilfen nur unter dieser Bedingung zu. Auch das dritte Griechenland-Programm wurde in der Erwartung beschlossen, dass der Währungsfonds mitmacht. Nicht, weil die Abgeordneten Athen Schulden erlassen wollten. Sie betrachten den IWF aber als Garanten dafür, dass harte Reformen auch wirklich durchgesetzt werden. Der Unmut in CDU und CSU über immer neue Kredite für Athen konnte nur so gebändigt werden. Schäuble verwendete ein drastisches Bild, als er mit Tsipras in Davos diskutierte: „Wenn ich den IWF ausklammere, müsste ich im Bundestag eine neue Vereinbarung einbringen. Da könnte ich auch mit brennender Kerze in einen Raum voll Dynamit laufen.“ Sollte heißen: Die eigene Fraktion würde in die Luft gehen.

Die Griechenland-Hilfen haben auch eine geostrategische Dimension

Für den Währungsfonds stellt sich die Lage anders dar. Er ist für seine Unnachgiebigkeit bekannt, mitunter gar berüchtigt, und nun in Sorge, dass er in Griechenland seinen Ruf aufs Spiel setzt. Denn normalerweise legt der IWF das Reform-Menü allein fest, in Europa rühren aber drei weitere Köche mit im Brei. Davon ist ein Koch, die EU-Kommission, eine politische Institution mit eigenen Regeln. Für Kommissionspräsident Juncker war es oberstes Gebot, Griechenland in der Eurozone zu halten – die Ökonomen im IWF hätten auch mit einem Austritt leben können.
Allerdings werden Programme beim IWF weder von den Ökonomen beschlossen noch von der Direktorin Lagarde, sondern vom Exekutivausschuss. Da wird es dann doch wieder politisch, denn dort sitzen Vertreter der Mitgliedstaaten. Ihr Stimmgewicht entspricht den Anteilen ihrer Staaten am Fonds. In den letzten Jahren ist der Anteil der Schwellenländer erhöht worden. Asiaten und Südamerikaner blicken mit Argusaugen auf Griechenland: Sie mussten selbst schon harte Auflagen des IWF erfüllen. Die Stimmenmehrheit liegt aber immer noch bei Europäern und Amerikanern, wenn sie geschlossen auftreten. Und die Regierung in Washington hat klargemacht, dass sie die geostrategische Dimension fest im Blick hat. Für Amerika ist Griechenland ein wichtiger Nato-Partner an der Südostflanke, dort, wo russische Kriegsschiffe ins Mittelmeer einfahren. Das alles spricht dafür, dass sich der Fonds am Ende doch an den Krediten für Athen beteiligt.

Die Hoffnungen des Langzeitdenkers

Dem deutschen Finanzminister könnte das nur passen. Aber Wolfgang Schäuble denkt schon weiter. Als 2010 das erste Hilfsprogramm für Griechenland aufgelegt wurde, sprach er sich ausdrücklich gegen die finanzielle Beteiligung des IWF aus. Ihn trieb die Sorge um, dass die Amerikaner indirekt Entscheidungen im Euroraum beeinflussen. Schäuble schlug vor, einen Europäischen Währungsfonds zu gründen. Es kam dann anders. Aber geben der Verlauf der Krise und die komplizierten Verhandlungen mit Rücksicht auf den IWF ihm nicht recht? Ganz auf eigenen Beinen steht Europa noch nicht.
Inzwischen hat sich manches getan. Es gibt mit Reglings ESM sogar einen Kern, aus dem mal ein Europäischer Währungsfonds werden könnte – seit 2010 hat er dreimal so viel Geld ausgezahlt wie der IWF insgesamt. Schäuble mache sich so seine Gedanken, heißt es in seiner Nähe. Er ist einer der wenigen Langzeitdenker im politischen Geschäft. Wenn Griechenland stabilisiert ist und wieder Geld am Kapitalmarkt bekommt, dann könnte nochmal Schäubles Stunde schlagen – ganz anders als im Juli vergangenen Jahres.

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