South StreamDie Südstromrechnung
Durch die Entscheidung des Kremls gegen South Stream werden die Karten im russisch-europäischen Gaspoker neu gemischt. Was folgt, ist noch unklar. Aber die Türkei könnte die große Siegerin sein.
02.12.2014, von MICHAEL MARTENS, ISTANBUL
In Serbien und in Bulgarien mochten sie es zunächst nicht recht glauben – oder sie schwiegen. Serbiens Ministerpräsident Aleksandar Vučić befand sich am Dienstag auf Auslandsreise in Israel und verlor zumindest bis zum Nachmittag kein Wort über das am Vortag in der Türkei von Russlands Präsident Wladimir Putin und dem Gasprom-Chef Alexej Miller verkündete Aus für das Gasleitungsprojekt „South Stream“. Vučićs bulgarischer Gegenpart Bojko Borissow äußerte sich zunächst aber ebenfalls nicht. Selbst auf seiner Facebookseite, über die Borissow die Welt oder zumindest Bulgarien sonst unter Umgehung lästiger Journalisten und ihrer unvorhersehbaren Fragen gern wissen lässt, was ihm bedeutsam ist, war bis zum Nachmittag ein neuer Eintrag zu South Stream nicht zu finden.
Dabei sind Bulgarien und Serbien von der russischen Entscheidung betroffen wie kein anderer Staat außer Russland. „South Stream“ sah die Lieferung von russischem Gas unter dem Schwarzen Meer hindurch nach Bulgarien und Rumänien und von dort weiter westwärts nach Ungarn und in andere EU-Staaten vor. Unter Umgehung der Ukraine. Für Bulgarien und Serbien hätte die Verwirklichung des Projekts bedeutet, in ihrer Gasversorgung von russisch-ukrainischen Konflikten unabhängig zu sein. Zudem wären sie von reinen Empfängern zu Transitstaaten im großen Gaspoker aufgestiegen. Dass es nun so wohl nicht kommen wird – zumindest nicht über South Stream – ist indes keine Überraschung für die Beteiligten.
Die Hoffnung stirbt zuletzt
Ob Putin Vučić die schlechte Nachricht schon im Oktober überbrachte, als man bei Orangensaft und einer Militärparade die serbisch-russischen Beziehungen feierte, ist nicht bekannt. In kleinem Kreis hatte Vučić jedoch schon im Sommer angedeutet, dass er nicht mehr mit einer Verwirklichung des Projekts rechne. Der Russland gegenüber skeptische Borissow und die bulgarische Führung hatten sich derweil auf die Formel geeinigt, dass es die Angelegenheit Russlands und der EU sei, sich über „South Stream“ einig zu werden. Man wolle das Projekt – aber nur, wenn es europäischen Regeln entspreche, lautete die Sofioter Sprachregelung. Und diese Regeln sehen nun einmal vor, dass Lieferant und Betreiber eines Gasnetzwerks nicht identisch sein dürfen und das dritte Anbieter Zugang dazu haben müssen.
Da in Sofia und Belgrad viele wirtschaftliche Hoffnungen mit „South Stream“ verbunden wurden, weigerten sich am Dienstag viele Politiker weiterhin, von South Stream in der Vergangenheitsform zu sprechen. Selbst Bulgariens Präsident Rossen Plewneliew, der sich in einem Gespräch mit der F.A.Z. unlängst noch in einem für ein Staatsoberhaupt bemerkenswert kritischen Ton über Russland geäußert hatte, ließ sich noch eine rhetorische Hintertür offen, als er am Dienstag sagte: „Ich glaube, niemand in der EU wird South Stream zurückstoßen, wenn Russland die Bereitschaft zeigt, sich an die Regeln der EU zu halten.“
Freilich sparte er auch diesmal nicht mit Kritik an Moskau: „Die EU fußt auf Recht und Gesetz. Ich bedauere es, dass Russland in der ukrainischen Krise das Recht des Stärkeren demonstriert – aber wenn wir uns an Recht und Gesetz halten, kann jedes Projekt, ob groß oder klein, verwirklicht werden.“
„Ein exzellenter Schachzug“
Rumen Owtscharow, ein alter russophiler Recke der unlängst abgewählten Bulgarischen Sozialistischen Partei, die gern die gesamte Energiepolitik Bulgariens auf Moskau ausgerichtet hätte, warnte, Bulgarien verliere durch die Absage fast 500 Millionen Euro und büße zudem „geostrategischer und politisch“ an Bedeutung ein. Ein Berater des bulgarischen Wirtschaftsministers drückte unterdessen die bulgarische Hoffnung aus, dass in Sachen South Stream noch nicht das letzte Wort gesprochen sei: „Das Projekt ist nicht beendet, solange wir die offizielle russische Position nicht kennen.“
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Ähnliche Äußerungen gab es in Belgrad, wobei sich die Frage stellte, was offizieller sei kann als eine Äußerung des russischen Staatspräsidenten und des Chefs von Gasprom auf einer Pressekonferenz. Serbiens Energieminister Aleksandar Antić teilte dennoch unverdrossen mit, ihm liege keine offizielle Mitteilung von Gasprom darüber vor, dass Veränderungen am Projekt „South Stream“ geplant seien. „Ich erwarte weiterhin, dass alle offenen Fragen im Gespräch geklärt werden können und dass beide Seiten (die EU und Russland) zu einer Übereinkunft kommen werden“, so der Minister. Der Generalsekretär der serbischen Gasgesellschaft Vojislav Vuletić, der bei früheren Gelegenheiten stets beteuert hatte, als Ingenieur könne er sich zu politischen Fragen nicht äußern, stellte die Aussagen Putins und Millers am Dienstag gar als Teil einer raffinierten Taktik dar: „Das war ein exzellenter Schachzug der russischen Seite, um das Projekt zu verwirklichen.“ Russland habe der EU nämlich auf diese Weise zu verstehen gegeben, dass es sich anderen Märkten zuwenden werde, wenn die Europäer sich quer stellten. Die EU werde nun „auf die Knie fallen und beten, dass South Stream gebaut wird, denn Europa ist hungrig nach Gas.“
Zumindest der Hinweis auf die anderen Märkte war nicht ganz aus der Luft gegriffen, denn Russland, ohnehin durch den Rückgang der Ölpreise und den Wertverlust des Rubel vor allem im Vergleich zum Dollar gebeutelt, will nun offenkundig versuchen, den durch den Ausfall von South Stream entstandenen Schaden in der Türkei zumindest partiell wieder gut zu machen. In türkischen Zeitungen war am Dienstag gar von einer kommenden russisch-türkischen „Energieallianz“ zu lesen. Zuvor hatten Putin und Miller ausführliche Gespräche mit dem türkischen Staatspräsidenten Tayyip Erdogan sowie dessen Regierungschef Ahmet Davutoglu geführt. Es gab offenbar viel zu klären, denn die Pressekonferenz begann deutlich später als geplant. Dann verkündeten Russlands Präsident und sein oberster Gasverkäufer, dass man künftig mehr Gas in die Türkei liefern werde. Dies soll über einen Ausbau der bereits bestehenden Unterwasserleitung „Blue Stream“ geschehen.
„Blue Stream“ soll ausgebaut werden
Wenn Bulgarien (unter dem Druck der EU) nicht als souveräner Staat handeln könne, dann werde Russland eben die Türkei zu einem Drehkreuz seiner Gaslieferungen machen, spottete Putin sinngemäß: „Wir sind nicht nur bereit, Blue Stream auszubauen, sondern auch, ein zusätzliches Rohrleitungssystem zu bauen, um den wachsenden Bedarf der türkischen Wirtschaft zu decken und, sofern es als sinnvoll erachtet wird, auf türkischem Boden nahe der Grenze zu Griechenland einen zusätzlichen Gasverteiler für die südeuropäischen Verbraucher zu errichten“, wurde Putin von türkischen Medien zitiert. In der Türkei hob man auch hervor, dass Putin sein Angebot einer russisch-türkischen Energiepartnerschaft mit einem Preisnachlass auf russische Gaslieferungen von sechs Prozent versüßt habe, gültig ab 2015.
Alexej Miller bestätigte, dass Russland und die Türkei eine Absichtserklärung über den Bau einer zusätzlichen Gasleitung unter dem Schwarzen Meer unterzeichnet hätten. Sie solle die gleiche Kapazität haben, die für South Stream vorgesehen war. Davon werde die Türkei aber nur gut ein Viertel selbst verbrauchen, der Rest solle nach Griechenland und in andere südosteuropäische Staaten durchgeleitet werden. Dies wolle Gasprom nicht im Alleingang bewerkstelligen sondern gemeinsam mit den Türken: „Wir sind bereit, mit der Türkei ihre Teilnahme zu diskutieren, wenn sie daran Interesse hat“, so Miller.
Türkisches Selbstbewusstsein
Ob die Türkei Interesse hat, muss sich freilich noch weisen. Am Dienstag tat sich Ahmet Davutoglu zunächst mit einer Forderung hervor, die das türkische Selbstbewusstsein spiegelt. Ein Preisnachlass von sechs Prozent, so der Ministerpräsident, sei nicht genug. Welchen Preis die Türkei sonst noch verlangt, um Russland aus seiner Südstromnot zu helfen, war am Dienstag Gegenstand ausführlicher Spekulationen in Ankara und Istanbul.
Fest steht, dass Putins Eingeständnis, South Stream derzeit nicht verwirklichen zu können, eine Niederlage für ihn bedeutet. Seit mehr als einem Jahrzehnt hatte Putin sich als Präsident, Regierungschef und dann wieder als Staatsoberhaupt für den Versuch eingesetzt, Gas unter Umgehung der Ukraine südwestwärts zu leiten. Häufig waren in jenen Jahren die Firmenflugzeuge von Gasprom auf dem Belgrader und Sofioter Flughafen zu sehen, und mitunter kam auch Putin persönlich. Im März 2003 reiste er, schon damals begleitet von Alexej Miller, nach Bulgarien, um für seine Idee zu werben. Das Ergebnis war die Unterzeichnung des russisch-bulgarischen „Memorandums über langfristige wirtschaftliche Zusammenarbeit für den Gastransport“, eine Art Geburtsstunde von South Stream. Auf einer seiner letzten Auslandsreisen vor seinem Wechsel in das Amt des Ministerpräsidenten fuhr Putin dann 2008 wiederum nach Sofia, um die 2003 eingeleiteten Geschäfte zum Abschluss zu bringen. Doch all der persönliche Einsatz war vergeblich. South Stream, geboren 2003 in Sofia, wurde 2014 in Ankara begraben. Was folgt, ist noch unklar. Die Türkei könnte die große Siegerin sein.
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