Trost suchen bei Karl PopperDie offene Gesellschaft und ihre Feinde
Hören die Menschen auf, für eine offene Gesellschaft zu kämpfen, ist es mit allem vorbei: mit der Freiheit, mit der Demokratie und mit der Marktwirtschaft. Ein Philosoph weiß Rat.
17.11.2015, von RAINER HANK
Hat die Weltgeschichte einen Sinn? Mit dieser Frage beginnt der PhilosophKarl Popper das letzte Kapitel seines monumentalen zweibändigen Hauptwerks. Es trägt den Titel: „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“.
Nein. Heißt die Antwort des Philosophen. Die Weltgeschichte hat keinen Sinn. Keine Einschränkung. Kein Wenn, kein Aber. Keine Fußnote. Sie hat keinen Sinn. Noch Fragen? Mehr dazu unter #ParisAttacks.
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Es war der 13. März 1938, der Tag von Adolf Hitlers Einmarsch in Österreich, als Popper, ein Wiener mit jüdischen Wurzeln, im neuseeländischen Exil beschloss, sein Buch über die Feinde der offenen Gesellschaft zu schreiben. Sieben Jahre später, im Jahr 1945, als der Krieg in Europa zu Ende ging, ist das Buch erschienen. „Ich hatte es geschrieben als meinen Beitrag zu den Kriegsanstrengungen. Seine Tendenz war: gegen Nazismus und Kommunismus; gegen Hitler und Stalin“, erzählt der Autor: „Ich verabscheute die Namen beider so sehr, dass ich sie in meinem Buch nicht erwähnen wollte.“
Freiheit kann ungemütlich werden
Dass Aufklärung und Zivilisation im Lauf der Zeiten Freiheit und Wohlstand für alle bringen und im Maße der Fortschrittsgeschichte auch die letzten Spuren einer Herkunft der menschlichen Gattung aus Armut und Barbarei überwinden würden, war die im Nachhinein als gefährlich sich erweisende Illusion des liberalen Zeitalters. Dass das Böse nackt, brutal und banal, immer noch präsent ist, war 1945 jedermann offenbar geworden, der sehen konnte. Bis heute habe sich die Menschheit nicht von ihrem Geburtstrauma erholt, schrieb Popper: vom Trauma des Übergangs aus der Stammes- oder „geschlossenen“ Gesellschaftsordnung, die magischen Kräften unterworfen ist, zur „offenen“ Gesellschaftsordnung, die die kritischen Fähigkeiten des Menschen freisetzt. Freiheit kann ungemütlich werden, kann Angst machen, kann Menschen überfordern und die Sehnsucht nach der Rückkehr in eine geschlossene Gesellschaft nähren, die alle ihre Kraft dazu verwendet und verschwendet, sich nach außen abzuriegeln.
Der Schock dieses Übergangs von der geschlossenen in die offene Gesellschaft, der den Menschen bis heute in den Knochen sitzt, ist, so Poppers Vermutung, der entscheidende Faktor, der immer wieder jene reaktionären Bewegungen ermöglicht, die auf den Sturz der Zivilisation und auf die Rückkehr der Stammesgebundenheit hingearbeitet haben und noch hinarbeiten. Wer meint, das Böse sei ein für allemal überwunden, weil doch jeder Vernünftige einsehen müsse, dass und wie er von einer offenen Welt profitiere, in der er nach seinen Wünschen leben, frei sein und reich werden kann, und dass jedermann schon aus purem Egoismus diese Freiheitsrechte allen anderen ebenfalls zubilligen müsste, sieht sich getäuscht. Die Zivilisation hat ihren universalistischen Anspruch nie durchsetzen können. Die Aufklärung wird die Barbarei nicht los. Sie hängt an ihr wie ein Teufel; das ist ihre Dialektik. Der Kampf für die Freiheit, meint Popper, ist ein ewiger. Er endet nie.
Trauer und Schrecken über den Terror kennt viele Ausdrucksformen. Viele davon brauchen weder Sprache noch Schrift. Aber reden hilft. Und lesen auch. Man kann, man sollte Popper (wieder) lesen, an diesen Tagen nach dem „Kriegsakt“ (François Hollande) der Schreckensnacht vom 13. November 2015. Wer kann angesichts dieses Grauens noch behaupten, die Geschichte habe einen Sinn. Lange nicht mehr seit 9/11 war Poppers These so unmittelbar einleuchtend wie an diesem Wochenende. „Karl Popper hat keine Ethik geschrieben, aber er war ein Moralist“, meinte der deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt. Helmut Schmidt, gestorben am 10. November 2015, den man früher als geistlosen Macher abtun zu können meinte, war ebenfalls ein Moralist. Den Philosophen Karl Popper hat er zeitlebens gelesen, geschätzt, gar bewundert. Man kann es auch als Schmidts Auftrag und Erbe betrachten, an diesem Schreckenswochenende auf Popper zu zeigen.
Dabei ist Poppers Beantwortung der Frage, ob die Weltgeschichte einen Sinn hat, außerordentlich aufschlussreich. Schroff weist der Denker alle Begründungen für eine Sinngebung als zynische Überhöhungen des Weltgeschehens zurück. Wer der Weltgeschichte einen Sinn zuschreibt, beleidige jede sittliche Auffassung der Menschheit. Denn die Geschichte der Machtpolitik sei nicht besser als wenn man die Geschichte des Raubes oder des Giftmords zur Geschichte der Menschheit machen wollte. Mit anderen Worten: Angesichts von Schrecken und Barbarei, von Lug, Trug und Täuschung von Sinn sprechen zu wollen, verbietet sich ein für allemal. Nicht besser kommen bei Popper auch jene Utopisten von Plato bis Marx weg, die zwar das barbarische Jammertal zur Kenntnis nehmen, aber darauf hoffen, dass wir dereinst einmal in einem irdischen Paradies leben werden und ein Sinn der Geschichte darin bestünde, als Menschheit diese Fortschrittsanstrengung in die Hand zu nehmen. „Diese Behauptung ist Lästerung“: Denn was hülfe es, heute an die zukünftigen Machthaber und Massenmörder zu appellieren. Sie würden sich kaum um unseren zivilisierenden Rat scheren und umstimmen lassen.
Die Verantwortung für die Geschichte fällt auf den Menschen zurück
Auch auf einen christlichen Gott will Popper die Verantwortung für einen Sinn der Geschichte nicht delegieren lassen. Denn das würde ja heißen, dass Gott auch die Verantwortung für all den Schrecken und die nicht ausrottbare Barbarei in der Geschichte zu tragen hätte. Was wäre das für ein Gott? Umso mehr, als früher die Christen selbst, nicht anders als der islamistische Terror heute, sich auch noch auf einen Gott beriefen zur Begründung ihres abscheulichen Handelns. „Und in dieser vom Menschen nicht einmal geschaffenen, sondern von ihm gefälschten Geschichte wagen Christen den Finger Gottes zu sehen!“
Dabei bleibt die Absicht dieser Theologisierung des Weltgeschehens nicht verborgen: Es geht darum, menschliche Verantwortung abzuschieben und auf andere, sei es auf „die“ Geschichte, einen hinter ihr stehenden Sinn oder einen noch weiter dahinter stehenden Gott. Popper nennt es Gotteslästerung, gegen welche sich all jene wenden müssten, die sich wirklich und aufrichtig als Gläubige verstehen. Wer Gottes Wirken in der Geschichte verneint, muss nicht gleich zum Atheisten werden. Im Gegenteil.
Es hilft alles nichts und ist am Ende sogar die Moral aus Poppers Reflexion: Die Verantwortung für die Geschichte fällt auf den Menschen zurück. Auf keinen anderen. Das ist der zentrale Satz: „Die einzige rationale Einstellung zur Geschichte der Freiheit besteht in dem Eingeständnis, dass wir es sind, die für sie die Verantwortung tragen, – in demselben Sinn, in dem wir für den Aufbau unseres Lebens verantwortlich sind; dass nur unser Gewissen unser Richter sein kann.“
Ohne offene Gesellschaft fehlt der Marktwirtschaft die Luft zum Atmen
Wenn es aber an uns und nur an uns liegt, was der Sinn unseres Lebens sein soll, dann hilft ein Wegducken vor der Barbarei gerade nicht. Dann geht es darum, im Kampf für die offene Gesellschaft keinen Millimeter nachzugeben. Das schließt Klugheit nicht aus: Karl Popper hat gut daran getan, sich vor den Nazi-Horden so weit wie möglich davonzumachen – nach Neuseeland. Aber das war gerade kein Nachgeben, keine feige Flucht, sondern überlegte Tat. Dass die Geschichte keinen Sinn hat, heißt nicht, dass wir die Barbarei mit Entsetzen akzeptieren müssen oder dass wir gezwungen sind, sie als grausamen Scherz hinzunehmen und zu resignieren.
Poppers Pathos von 1945 ist das Credo für heute: „Wir können die Geschichte interpretieren im Sinne unseres Kampfes für die offene Gesellschaft, für eine Herrschaft der Vernunft, für Gerechtigkeit, Freiheit, Gleichheit und für die Kontrolle des internationalen Verbrechens. Obwohl die Geschichte kein Ziel hat, können wir ihr dennoch diese unsere Ziele auferlegen. Und obwohl die Geschichte keinen Sinn hat, können wir ihr einen Sinn geben.“
Daraus folgt alles. Gar alles, wofür es sich zu kämpfe lohnt. Für die Demokratie. Nicht etwas weil die Demokratie die Herrschaft der Mehrheit ist, sondern weil sie eine humane Regierungsform ist, wo man die Regierenden ohne Blutvergießen absetzen kann. Alle Völker, die sich nach dem Ende des Nationalsozialismus 1945 und des Kommunismus 1989 zu diesen fundamentalen Werten bekannt haben, durften diese Freiheitserfahrung machen.
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Daraus folgt alles. Gar alles, wofür es sich zu kämpfen lohnt. Auch und vor allem die Marktwirtschaft, der ohne eine offene Gesellschaft die Luft zum Atmen fehlte. Denn nur in einem Rechtsstaat, der den Menschen Freiheit lässt und ihnen zugleich Sicherheit gibt (wenn es sein muss mit Richtern, mit Polizei und mit Militär), von ihrer Freiheit auch Gebrauch zu machen, können sich freie Märkte entfalten. Freie Märkte aber sind ein Segen. Weil sie arme Menschen reich machen, was ein Blick auf die Freiheitsgeschichte Europas im 19. Jahrhundert und Asiens im 20. Jahrhundert beweist. Freie Märkte sind aber auch ein Segen, weil sie menschliche Kreativität und unternehmerischen Einfallsreichtum belohnen, woran alle ihre Freude haben können. Ein primitiver Markt – der Tausch von Äpfeln gegen Spinat - mag vielleicht auch ohne diesen Rechtsrahmen auskommen. Aber ein primitiver Markt bietet allenfalls geringe Wahlfreiheit. Und die Marktteilnehmer sind auf immer verdammt dazu, arm zu bleiben.
All das steht jetzt auf dem Spiel. Wieder einmal. Der Kampf gegen den Terror muss mit allen Waffen und in aller Härte geführt werden. Er muss auch mit den Waffen des Arguments geführt werden, damit die offene Gesellschaft als Vorbild strahlen kann. Das ist nicht naiv. Daran hängt alles. Auch unser Wohlstand, der Ausfluss unserer Freiheitsentscheidungen ist.
„In dieser Weise können wir sogar die Weltgeschichte rechtfertigen: sie hat eine solche Rechtfertigung dringend nötig.“ (Karl Popper 1945).
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