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Freitag, 24. April 2015

100 Jahre Armenier-Genozid Todgeweihte im Wüstensand

100 Jahre Armenier-Genozid

Todgeweihte im Wüstensand

Armenier werden aus der Türkei deportiert. Das Wort Genozid ist in der Türkei bis heute tabu.
Armenier werden aus der Türkei deportiert. Das Wort Genozid ist in der Türkei bis heute tabu. (Bild: Kathryn Cook / Keystone)
Mit dem Völkermord an den Armeniern wurde das irreversible Ende des osmanischen Vielvölkerstaats eingeleitet. Von den türkischen Rechtsnachfolgern geleugnet, ist der Genozid bis heute eine schwere Hypothek.
Istanbul stand im März 1915 unter Hochspannung. Seit britische und französische Schiffe im Februar die osmanische Hauptstadt angriffen, ging es um das Überleben des Staates, an dessen Spitze sich die Bewegung der Jungtürken geputscht hatte. In ihrem «revolutionären Komitee» selbst herrschte im Unterschied zu anderen Kreisen keine Panik. Erste Siege gegen die Angreifer hatten sie selbstsicher werden lassen. In der Nacht vom 24. auf den 25. April, wenige Stunden bevor feindliche Truppen auf Gallipoli landeten, liess Innenminister Talat, der Primus im Komitee, eine Gruppe von knapp 200 armenischen Persönlichkeiten der Hauptstadt verhaften und verschleppen. Dasselbe Vorgehen fand im April und Mai in den übrigen Städten Kleinasiens statt.

«Innere Angelegenheiten»

Danach wurde das Volk Provinz um Provinz in die syrische Wüste geschickt. Rund die Hälfte der «Verschickten» kam lebend an. Was mit diesen 1916 geschah, nennt die Wissenschaft die «zweite Phase des Genozids». Raphael Lemkin, der Pionier der Uno-Genozidkonvention, hat sie mit dem Vernichtungslager Auschwitz in Verbindung gebracht.
Im Frühjahr 1915 lag die Verteidigung der osmanischen Hauptstadt auch in den Händen deutscher Generäle mit ihren Geschützen und Unterseebooten. Deutsche Diplomaten und Militärs in Istanbul waren ihrerseits mitverantwortlich für Niederlagen, die die osmanische Armee bis Anfang 1915 im Kaukasus, in Nordiran und beim Suezkanal erlitten hatte. Denn mit fixem Blick auf Endsieg drängte Deutschland seit dem August 1914 auf militärische Aktion gegen Russland und Grossbritannien. Dabei vergass es die Bedürfnisse der osmanischen Welt. Und es vergass die Armenier, für deren sichere Zukunft in der östlichen Hälfte Kleinasiens es sich noch im osmanischen Reformplan vom Februar 1914 starkgemacht hatte.
Mitglieder des jungtürkischen Komitees hatten während der Julikrise von 1914 ein geheimes Kriegsbündnis mit Deutschland eingefädelt. Um daraus maximalen militärischen Profit zu ziehen, hielt sich der deutsche Seniorpartner aus «inneren Angelegenheiten» heraus. Staatliche Repression sowie masslose Requisitionen seit Kriegsbeginn richteten sich vor allem gegen Christen in den Ostprovinzen. Nach den gescheiterten Offensiven spitzten sich im Frühjahr 1915 religiöse Gegensätze an der langen Ostfront vom Schwarzen Meer bis nach Nordiran zu. Stämme und Milizen nahmen am Krieg teil. Bedrängte Christen konnten dort fast nur noch auf Russland und Grossbritannien hoffen. Auch einige Kurden setzten auf den russischen Einmarsch. Mehrere tausend osmanischer Staatsangehöriger wechselten auf die russische Seite oder liessen sich als Milizen bewaffnen.
Die meisten Kurden folgten indes dem Ruf des Jihad und materiellen Interessen, die sie an der Seite der Jungtürken bewahrt sahen. Viele bereuten dies später bitter. Manche wurden an der Seite von Spezialeinheiten und eigens entlassener Krimineller zu lokalen Tätern der ersten Phase des Genozids. Heutige kurdische Politiker in der Türkei bekennen und bereuen diese Verbrechen, deren Hauptschauplatz das östliche Kleinasien war. Die unter der kurdischen Stadtregierung 2011 wieder eingeweihte armenische Kathedrale und der Zustrom armenischer Pilger sind Belege für die neue Haltung.
Als nach Mitte April 1915 in Van, der einzigen Region mit armenischer Bevölkerungsmehrheit, ein offener Kampf zwischen armenischer Miliz und staatlichen Kräften ausbrach, nahm Talat diesen und weitere lokale Konflikte zum Anlass, um von einem allgemeinen armenischen Aufstand in Kleinasien zu sprechen. Damit begründete er seine Politik nach dem 24. April. Im März hatte Talat bereits seinen Komitee-Bruder Dr. Mehmet Reshid als Gouverneur nach Diyarbakir gesandt.
Hier die Grafik als PDF.
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Organisierte Ausrottung

Reshid nahm Talats Befehle vorweg. Er verhaftete die lokale armenische Elite und folterte sie zu Tode. Im Mai organisierte er statt der Abmärsche die Ausrottung von Männern, Frauen und Kindern. Dabei bezog er ohne Befehl Talats die aramäischen Christen ein. Doch auch in anderen Ostprovinzen wurden Männer, soweit sie nicht Militärdienst taten, noch vor den Abmärschen getötet, und auf ihrem langen Weg in den Süden fielen an einigen Orten auch Frauen und Kinder Massakern zum Opfer. Unzählige wurden vergewaltigt. Nirgends war die physische Vernichtung so komplett wie in Diyarbakir, dessen Gouverneur sich in einem Telegramm vom 18. September 1915 rühmte, 120 000 «weggeschickt» zu haben.
Die erste Phase des Genozids war ein Massenraubmord. Die beschlagnahmten armenischen Güter sollten dem Aufbau einer muslimischen Nationalökonomie zugutekommen. Allerdings bereicherten sich viele Profiteure vor Ort. Gegen einige von ihnen, nicht jedoch gegen Täter des Genozids, kam es zu Prozessen. Mehrere tausend Christen der Ostprovinzen fanden Asyl bei alevitischen Kurden im Dersim nördlich von Diyarbakir oder bei den Jesiden im Sinjar südlich der Stadt. Es gab Beamte, die sich weigerten, die Befehle auszuführen. Einige von ihnen wurden ermordet, andere versetzt. Eine unbekannte Zahl von Frauen und Kindern überlebte in muslimischen Haushaltungen, sei es aus Barmherzigkeit oder als Objekte der Ausbeutung. Erst im 21. Jahrhundert ist es möglich geworden, in der Türkei über «armenische Grossmütter» in eigenen Familien zu sprechen.
Aus dem Westen trafen auch Männer, aus den Ostprovinzen fast nur Frauen und Kinder in den über ein Dutzend Lagern ausserhalb Aleppos ein. Pro Tag starben mehrere hundert Menschen je Lager, wie die Baslerin Beatrice Rohner von einer Durchreise im Dezember 1915 berichtet. Einige der Insassen schafften es, sich in die Stadt abzusetzen. Hier begann Rohner mit Erlaubnis der Behörden, armenische Strassenkinder zu betreuen. Illegal leitete sie ein Netzwerk von Boten, um heimlich mit Lagerinsassen zu korrespondieren und diesen Geld für Einkäufe bei Beduinen und Bauern, die an die Lager herankamen, zu senden. Über Bekannte erfuhr Rohner von Zusammenkünften unter Todgeweihten, die mit Wüstensand ihr Abendmahl feierten. Die Lager erstreckten sich den Euphrat entlang bis Deir al-Zur. Da aus Sicht der Behörden zu viele von deren Insassen überlebten, trieben sie diese weiter und liessen im August 1915 östlich von Deir al-Zur 100 000 Menschen, darunter viele Kinder töten. Radikale Jihadisten sprengten 2014 die Genozid-Gedächtniskirche in Deir al-Zur in die Luft, die an dieses unbeschreibbare Grauen erinnerte.
Die osmanischen Armenier sind den europäischen Juden den kollektiven Gang in den Tod vorausgegangen. So haben es Zeitgenossen wie Aaron Aaronsohn, Franz Werfel und Raphael Lemkin verstanden. Für Dr. Reshid, den Gouverneur von Diyarbakir, waren die Armenier schädliche Mikroben. Für Mithat Sükrü, den Generalsekretär des jungtürkischen Komitees, waren die Armenier und andere Minderheiten geisteskrank. Das einzige wissenschaftliche Rezept zum Wohle einer robusten türkischen Nation sei daher die kollektive Zerstörung der Kranken und ihrer Krankheit gewesen.
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Armin Wegner, ein deutscher Offizier, der im Osmanischen Reich stationiert war, war einer von vielen Zeitzeugen, die die Todesmärsche der Armenier dokumentierten. Auf diesem Bild hielt Wegner einen Flüchtlingszug einer armenischen Familien nach Syrien fest.
Armin Wegner, ein deutscher Offizier, der im Osmanischen Reich stationiert war, war einer von vielen Zeitzeugen, die die Todesmärsche der Armenier dokumentierten. Auf diesem Bild hielt Wegner einen Flüchtlingszug einer armenischen Familien nach Syrien fest. (Bild: Armenian National Institute / Reuters)

Schleier der Verwirrung

Sükrü, später Abgeordneter der Republik Türkei, hat diese Ansicht noch nach Mitte des 20. Jahrhunderts in einem Buch niedergeschrieben und damit ungewollt ein Verdikt über sich und seine Weggefährten gesprochen. Andererseits haben heutzutage westliche Politiker und Türkei-Spezialisten für Jahrzehnte der Verdrängung geradezustehen. Erst im frühen 21. Jahrhundert war es so weit, dass ein Sohn von Überlebenden, Varujan Vasgonian, das dicke «Buch des Flüsterns» herausbrachte und der Papst öffentlich zu einer Wahrheit stand, um welche Regierungen Eiertänze aufführen.
In der Tat bedeckt ein Schleier der Verwirrung und Überpolitisierung Themen nahöstlicher Geschichte. Zweifellos bedürfen westliche Analysen, falls ihnen die empathische Kenntnis der spätosmanischen Welt fehlt, ebenso wie armenisch-nationalistische Sichtweisen gründlicher Kritik. Doch ändert dies nichts an der Diagnose dessen, was die jungtürkische Komitee-Regierung am 24. April 1915 in die Wege leitete.
Hans-Lukas Kieser ist Titularprofessor für Geschichte der Neuzeit an der Universität Zürich und Mitherausgeber des Buches «Der Völkermord an den Armeniern und die Shoah», 3. Aufl., Zürich 2014.

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