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Dienstag, 19. April 2016

Target-Salden Das Eurofieberthermometer steigt wieder Die Ungleichgewichte im EZB-Target-System nehmen wieder erstaunlich stark zu – eine Folge der EZB-Geldflut. Ist das ein Grund zur Sorge?

Target-SaldenDas Eurofieberthermometer steigt wieder

Die Ungleichgewichte im EZB-Target-System nehmen wieder erstaunlich stark zu – eine Folge der EZB-Geldflut. Ist das ein Grund zur Sorge?
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© BLOOMBERGHaben die Target-Salden im Blick: Bundesbank-Präsident Jens Weidmann (links) und EZB-Chef Mario Draghi
Die Target-Salden gelten als Fieberthermometer der Euro-Krise. Auf dem Höhepunkt, im Sommer 2012, erreichten die Ungleichgewichte im Target-Zahlungssystem der Zentralbanken einen Spitzenwert von mehr als einer Billion Euro. Dann fielen die Werte, als sich die Situation entspannte – auch bewirkt durch die Ankündigung von EZB-Präsident Mario Draghi, notfalls unbegrenzt Krisenanleihen zu kaufen (sein berühmtes Versprechen, zu tun „whatever it takes“).
Der Target-Saldo der Bundesbank, ihre Forderungen gegenüber dem Eurosystem, sank 2014 deutlich unter 500 Milliarden Euro. Doch seit einem Jahr, unbemerkt von der Öffentlichkeit, laufen die Target-Salden wieder auseinander.
Die Schulden wichtiger Südländer sind seit Anfang 2015 auffällig stark gestiegen. Italiens Target-Saldo rutschte um 100 Milliarden auf 257 Milliarden Euro ab, Spaniens Target-Konto fiel um 72 Milliarden auf minus 264 Milliarden Euro. Umgekehrt sind die Forderungen der Bundesbank steil gestiegen. Anfang dieses Jahres hat der deutsche Target-Saldo wieder die Marke von 600 Milliarden Euro überschritten, Ende März lag er bei 609 Milliarden Euro.
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Was hat das zu bedeuten? „Die hohen und weiter steigenden Target-Salden zeigen, dass die Euro-Krise nicht überwunden ist“, sagt Clemens Fuest, der neue Präsident des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung in München: Inzwischen erreichten die Target-Stände einiger Länder wieder das Niveau des Krisenjahres 2012. „Diese Entwicklung zeigt, dass das Vertrauen in die Solidität der Banken und der Staatsfinanzen in den Krisenstaaten der Eurozone derzeit wieder bröckelt“, warnt Fuest.
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„Kein Grund zur Sorge“

Die Gegenmeinung vertritt Marcel Fratzscher, Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin: „Der Anstieg der Target-Salden ist kein Grund zur Sorge, denn diese spiegeln wahrscheinlich zu einem großen Teil den gewünschten Effekt der Geldpolitik wieder“, sagt Fratzscher, der als EZB-nah gilt und deutsche Sorgen über finanzielle Risiken tendenziell für überzogen hält.
Infografik / Entwicklung der Target-Salden© F.A.Z.Vergrößern
Für Laien ist das Target-System ein schwer zu durchschauendes Thema. Target-2 ist das elektronische System, über das die Zentralbanken grenzüberschreitende Zahlungen abwickeln. Die Abkürzung steht für „Trans-European Automated Real-time Gross Settlement Express Transfer System“. Über das Target-System fließen Geldströme zwischen den Zentralbanken der Eurozone.
Die Salden bilden Zahlungsbilanzungleichgewichte ab. Darunter versteht man, wenn ein Land mehr importiert als exportiert und dafür keinen privaten Kredit erhält. Bis zum Ausbruch der Krise pendelten die Target-Salden um die Nulllinie, denn selbst große Leistungsbilanzdefizite wie in Griechenland wurden durch Kredite von Banken aus dem Norden finanziert.

„Goldene Kreditkarte“ für den Süden

Erst 2007/2008, mit Ausbruch der Krise, explodierten die Target-Salden förmlich. Grund war, dass private Banken den Krisenländern keine Kredite mehr gaben. Für diesen austrocknenden Kreditfluss sind seitdem in gewisser Weise die Zentralbanken der Eurokernländer eingesprungen. Anfangs finanzierten sie so vor allem Leistungsbilanzdefizite der Krisenländer (mehr Import als Export). Im Laufe der Krise nahm die Kapitalflucht aus dem Süden stark zu – und auch diese bildet sich im Target-System ab, beispielsweise der kreditfinanzierte Erwerb einer Immobilie in Deutschland durch einen Italiener oder Griechen.
Deshalb schossen die Target-Schulden Südeuropas 2012 in die Höhe. Spiegelbildlich verzeichnete die Bundesbank im August 2012 mit 751 Milliarden Euro den Höchststand an Target-Forderungen. Der damalige Ifo-Präsident Hans-Werner Sinn, der das Thema als Erster intensiv untersucht hatte, kritisierte das Target-System als verdeckte Hilfskreditmaschine. Target sei eine Art „goldene Kreditkarte“ für den Süden, der dort unbegrenzt Kredit ziehen könne, während die Qualität der Pfänder, welche die Banken bei der EZBhinterlegen mussten, immer schwächer wurde, kritisierte Sinn.
Die Bundesbank ist gezwungen, die Target-Buchungen vorzunehmen und Forderungen anzuhäufen. Die Krisenländer-Notenbanken müssen für ihre Target-Schulden zwar Zinsen zahlen – doch liegt der Leitzins inzwischen bei null. Umstritten ist, ob die Target-Forderungen ein finanzielles Risiko für die Gläubigerländer wie Deutschland darstellen. Im Falle eines Auseinanderbrechens des Euros oder eines Austritts eines Landes, etwa Griechenlands, das 2015 nahe davor stand, könnten die Forderungen der Bundesbank wertlos werden.

Verschiedene Erklärungen plausibel

Für den aktuellen Anstieg sind verschiedene Erklärungen plausibel, erklärt Frank Westermann, Wirtschaftsprofessor an der Universität Osnabrück. Alle stehen im Zusammenhang mit der Geldflut der EZB durch den Anleihekauf – inzwischen für mehr als 700 Milliarden Euro. Die steigenden Target-Salden könnten eine weiter fortlaufende Kapitalflucht aus dem Süden widerspiegeln. Wenn etwa die Banca d’Italia Anleihen kauft, ist denkbar, dass die Verkäufer den Erlös lieber in Deutschland anlegen als in den wackeligen italienischen Banken.
Denkbar ist auch, dass die Banca d’Italia den Bond einem deutschen Verkäufer abnimmt – auch das wird im italienischen Target-Minus abgebildet. Diese Erklärung sieht Bundesbank-Präsident Jens Weidmann. Die Target-Saldo-Zunahme wäre somit ein direkter Effekt der EZB-Geldschwemme, die sich unterschiedlich im Euroraum verteilt.
Dahinter verbirgt sich durchaus ein Risiko für die Steuerzahler, behauptet Ökonom Westermann. Indem die Target-Salden mit der quantitativen Lockerung (Quantitative Easing) der EZB wieder gestiegen sind, erhöhte sich dieses Risiko. Das zeige, dass die auf Forderung der Bundesbank für die Anleihekäufe praktizierte Risiko-Teilung (nur 20 Prozent der Anleihen kauft die EZB auf Gemeinschaftsrechnung, 80 Prozent nehmen nationale Notenbanken in die eigene Bilanz) eher eine Scheinlösung gewesen sei, sagt Westermann. „Das übersieht ein großes Element des zusätzlichen Risikos“, nämlich die wachsenden Target-Salden.

„Ungleichgewichte bestehen fort“

In der deutschen Politik schauen einige Finanzfachleute mit Sorge auf die hohen Target-Werte. Die Eurokritiker von der AfD sehen sich bestätigt. „Steigende Target-Salden fungieren als eine Art Seismograph der Euro-Krise“, sagt Jörg Meuthen, AfD-Bundesvorsitzender und Volkswirtschaftsprofessor. „Die Krise ist eben nicht überwunden. Die enormen Ungleichgewichte bestehen unvermindert fort.“
Meuthen meint, die EZB-Politik sei hilflos gegenüber den strukturellen Problemen des Euros. Im Währungsraum seien zu unterschiedliche Länder zusammengespannt. Der Grünen-Europa-Politiker Sven Giegold findet den Target-Anstieg ebenfalls „beunruhigend“. Der Euro sei nicht aus der Krise. Als Heilmittel empfiehlt er eine deutsch-französische Initiative zur Vereinheitlichung der Finanz- und Steuerpolitik und eine Schuldenvergemeinschaftung über einen Tilgungsfonds.
Der CDU-Finanzpolitiker und Vizechef der Unionsfraktion Ralph Brinkhaus hingegen reagierte auf Anfrage ausweichend auf die Target-Frage: Target sei „nur ein Aspekt“. Entscheidender seien die allgemeine Stabilität der Märkte und die Konjunktur in Europa, sagte er. Es gebe Fortschritte bei der Haushaltssanierung. Allerdings liege noch ein steiniger Weg vor der Eurozone.

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