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Freitag, 29. August 2014

Schuldzuweisungen ans Ausland Argentinien übt die Normalität

Schuldzuweisungen ans Ausland

Argentinien übt die Normalität

In Argentinien wahren Regierung und Bevölkerung den Anschein der Normalität und sehen den Kern allen Übels im Ausland.
In Argentinien wahren Regierung und Bevölkerung den Anschein der Normalität und sehen den Kern allen Übels im Ausland. (Bild: Imago)
Argentinien ist mit seinen Zahlungen zwar offiziell in Verzug. Im Land selber sieht man das Ganze jedoch anders. Auch Finanzinvestoren steigen wieder ein, obwohl das Risiko hoch ist. Die Regierung könnte das Land noch tiefer in die Krise reiten.
Ein unscheinbares Bürogebäude ohne Firmenschild in Martínez, der Peripherie von Buenos Aires, acht Uhr morgens, am Freitag vor zwei Wochen: In zwei Konferenzräumen sitzen ein Dutzend Anwälte, Agronomen und PR-Berater an Telefonen und bereiten sich an diesem eiskalten Wintermorgen seit Stunden vor. Zwei Minuten nach acht Uhr räuspert sich Mariano Bosch, CEO von Adecoagro, einem der grössten börsennotierten Agrarkonzerne der Welt, und beginnt mit der Präsentation der Quartalsergebnisse. In der nächsten Stunde stehen er und sein Finanzchef Carlos «Charlie» Boero Hughes den Analytikern, die aus New York, São Paulo und London zugeschaltet sind, Red und Antwort. Es geht um Regenfälle, die nächste Sojaernte und Zuckererträge – doch kein einziges Mal um Argentinien, ein Land, das seit drei Wochen zahlungssäumig ist, nachdem es schon vor 13 Jahren einen der grössten Defaults der Geschichte erlebt hatte. Dabei bearbeitet der Konzern einen Grossteil seiner 280 000 Hektaren in Argentinien. Dort liegt der Konzernsitz, von dort stammt das Topmanagement.

Keine Zeichen der Krise

Und genau in Argentinien begann, inmitten der Zahlungskrise von 2001, der Aufstieg des Konzerns an die Spitze des internationalen Agrobusiness, als der Grossinvestor George Soros mit anderen Investoren eine Farm aufkaufte, die deren Besitzer inmitten des damals herrschenden Chaos loswerden wollten. Rund 55 Mio. $ bezahlten die Investoren für 75 000 Hektaren bestes Farmland in der Pampa. Heute ist der Konzern 1,1 Mrd. $ wert. Soros hat seinen Anteil von rund einem Fünftel auch nach Kapitalerhöhungen und dem Börsengang behalten. Seine Investition hat sich seit dem ersten Default Argentiniens wertmässig verzwölffacht. Das ist viel, selbst für jemanden wie Soros.
 
 
 
Der Grossinvestor brauche sich aber auch jetzt keine Sorgen zu machen, dass Adecoagro unter der neuen Argentinien-Krise Schaden nehmen könnte, versichert Finanzchef Hughes im Gespräch mit der NZZ. Ganz im Gegenteil, eine Währungskrise könne gar den Aktienkurs beflügeln: Denn 60% der Kosten fielen in Pesos an, drei Viertel der Einnahmen dagegen in Dollars, sagt der 48-jährige Finanzmanager, der jahrelang bei der Citibank gearbeitet hat. «Jede Abwertung verbessert unsere Margen.» Obwohl Argentinien jetzt für Rating-Agenturen wieder als schlechter Schuldner gilt, dem man besser kein Geld leiht, sei es für Adecoagro kein Problem, ausländische Finanzierungen zu erhalten. Der Konzern sichere Kredite direkt mit Exporten ab. Dennoch seien für Argentinien die nächsten Monate entscheidend. Denn bald werde sich entscheiden, ob die Krise hart oder sanft verlaufe, sagt Hughes – und bringt damit die Stimmung in Buenos Aires auf den Punkt.
Bis jetzt ist von einer Krise in Argentinien nichts zu spüren. Im Zentrum von Buenos Aires sind die Restaurants zur Mittagszeit mit Geschäftsleuten überfüllt. Zur Rushhour ist es schwer, ein Taxi zu bekommen. Im Hafen Puerto Madero fahren Müssiggänger in ihren Sportwagen schon mittags an den eleganten Bars vorbei. Der Default vom 30. Juli brachte – anders als vor 13 Jahren – keine politische oder wirtschaftliche Zäsur. Das liegt einerseits daran, dass die Regierung, alle Argentinier, aber auch viele ausländische Manager nicht akzeptieren, dass Argentinien erneut zahlungssäumig sein soll. Argentinien könne und wolle ja zahlen und habe 99% der Gläubiger bedient, lautet die gängige Erklärung, warum dieser Zahlungsausfall ganz anders sei als jener vor 13 Jahren, als Argentinien schlicht kein Geld mehr hatte, um seine Anleihen in Höhe von rund 100 Mrd. $ zu bedienen.
An Argentiniens derzeitigem Zahlungsausfall sei vor allem der eigenwillige US-Richter schuld – so die Argumentation. Dieser besteht darauf, dass zuerst die Hedge-Funds, also die in Argentinien als «Geier-Funds» geschmähten Investoren, ausbezahlt werden, bevor die Mehrheit der Anleihenbesitzer bedient werden. Denn 93% der Bondbesitzer haben in zwei Umschuldungsrunden 2005 und 2010 zugestimmt, dass ihnen zwei Drittel ihrer Forderungen gestrichen werden. Dafür erhielten sie neue Bonds mit längeren Laufzeiten. Eine kleine Minderheit von Anleihenbesitzern machte bei dem Deal nicht mit – und verklagte Argentinien erfolgreich darauf, ausbezahlt zu werden, zu vollem Wert plus aufgelaufene Zinsen. Da sie ihre Anleihen meist zu einem Bruchteil ihres Wertes von genervten Gläubigern gekauft hatten, werden sie in Argentinien als Aasfresser beschimpft. Den Kopf des Richters, montiert auf dem Körper eines Geiers, sieht man als Plakat an jeder Ecke der Hauptstadt.

Der Richter als Sündenbock

Die Schuldzuweisung an den Richter wird nachvollziehbar, wenn man bedenkt, wie weit die Regierung in den letzten Monaten vorangekommen ist bei der Lösung ihrer ausländischen Schuldenprobleme: von der Entschädigung an den spanischen Erdölkonzern Repsol über die einvernehmliche Lösung der meisten Verfahren mit geprellten ausländischen Konzernen vor internationalen Schiedsgerichten bis hin zur Einigung mit den staatlichen Gläubigern des Pariser Clubs. Und bei dieser fast gelungenen Rückkehr auf die internationalen Finanzmärkte sei nun dieser Richter dazwischengegrätscht, mit der Forderung, zuerst die New Yorker Hedge-Funds zu entschädigen, bevor die anderen Gläubiger zum Zuge kämen. So überwies Argentinien im Juli eine Tranche an die Bondhalter. Der Richter blockierte jedoch die Zahlung und löste damit den Default aus.
Die Lage ist nicht nur zerfahren, sondern auch potenziell gefährlich, zumal keine Lösung in Sicht ist. Der 34-jährige Ökonom und Finanzexperte Frederico Semeniuk ist einer der wenigen, der die Katastrophe, auf die Argentinien zusteuert, emotionslos beschreibt. Er arbeitet bei der Wirtschaftsberatung Ecolatina, die wie die meisten Beratungsfirmen der Hauptstadt von der Intransparenz der Wirtschaftspolitik profitiert. Semeniuk empfängt mit Dreitagebart in einem lichtdurchfluteten Konferenzraum eines herrschaftlichen Altbaus über der Avenida Nueve de Julho, die in Buenos Aires als breiteste Avenida der Welt gilt. Was er sagt, klingt nicht gut: Kurzfristig könne sich Argentinien noch tiefer in die Krise reiten, wenn auch andere Gläubiger auf eine beschleunigte Rückzahlung ihrer Forderungen pochen würden, was nach dem Default möglich sei. Das grössere Problem stelle sich indes nächstes Jahr. Dann muss Argentinien 12 Mrd. $ an Gläubiger zurückzahlen – doppelt so viel wie in den letzten zehn Jahren zusammen. Weigert sich die Regierung, auf die Hedge-Funds zuzugehen, könnte das eine Abwärtsspirale in Gang setzen: Der Peso käme unter Druck, die Reallöhne würden sinken, und die Rezession könnte sich verschärfen. Die Regierung müsste die Importe drosseln, um nicht noch mehr Devisen zu verlieren, was die Rezession weiter verschärfen würde, so die Konsequenz staatlichen Nichtstuns. Bereits jetzt schrumpft die Wirtschaft, und die Inflation oszilliert bei 35%. Wie wahrscheinlich ist dieses Horrorszenario? Es sei unmöglich, Prognosen zu machen über die nächsten zwölf Monate, sagt der Ökonom. Denn zur Verschuldungslage komme eine politische Variable: Im Oktober 2015 wird gewählt. Überlasse die Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner ihrem Nachfolger die Aufräumarbeiten, sei dessen Handlungsspielraum aufgrund der wirtschaftlichen Krise stark eingeschränkt, befürchtet Semeniuk.

Olivenöl gegen Porsche

Es ist derzeit in Argentinien schwer, ja fast unmöglich, mit Unternehmern zu sprechen. Auch bei der Schweizer Handelskammer in Argentinien werden Fragen nach Interviews negativ beantwortet. Man habe schlechte Erfahrungen gemacht, erklärt die Geschäftsführerin. Kein Manager oder Unternehmer will zitiert werden. Die Sorge ist gross über die Willkür des Staates. Eine Ausnahme ist Nelson Visioli, Geschäftsführer des deutschen Automatisierungs-Technikers Phoenix Contact. Visioli ist einer jener Argentinier, die wie Italiener wirken und selbst in der verfahrensten Situation noch optimistisch einen Ausweg zu finden versuchen. Vor zwei Jahren weihte Visioli eine Fabrik für Klemmen und Schalterelemente ein. Die Präsidentin war per Fernsehen zugeschaltet und beglückwünschte Visioli für die neuen Jobs. Ein Teil der Produktion sollte ins Mutterhaus nach Norddeutschland exportiert werden, obwohl die Elemente in Deutschland vermutlich billiger herzustellen wären. Doch die Regierung fordert, dass die Unternehmen exportieren müssen, wenn sie importieren wollen. Das führt dazu, dass Porsche Wein und Olivenöl nach Europa «exportiert», um Fahrzeuge aus Zuffenhausen importieren zu können. Der Büromaterialhersteller Pelikan betätigt sich als Orangenexporteur, um Tintenstrahldrucker ins Land zu bekommen. Dadurch wird zwar keine einzige zusätzliche Flasche Öl oder Kiste Orangen exportiert. Das Ganze treibt aber die Kosten. Denn die Unternehmen müssen den Agrarunternehmen die Lizenz als «Exporteure» abkaufen. Visioli wollte nie Orangen oder Olivenöl exportieren, sondern mit den Ausfuhren ins Mutterhaus die Devisen erwirtschaften, um mehr importieren und seinen Marktanteil in Argentinien halten zu können. Doch dann platzten die Liefertermine ans Mutterhaus wegen der ausufernden Bürokratie, der strengen Devisenkontrollen und ständig wechselnder Zollbestimmungen. Auch die Ausfuhren in südamerikanische Nachbarländer konnte Visioli immer weniger einhalten. Visioli hat nur noch 30 statt wie vor kurzem 50 Mitarbeiter auf der Gehaltsliste. Die Firma arbeite aber weiter mit Gewinn. Doch wie das nächste Jahr verlaufen werde – dafür brauche man eine Kristallkugel, sagt Visioli.

Kein Exodus der Firmen

Dennoch haben bisher kaum ausländische Konzerne geschlossen. Die Unternehmen investieren ihre Gewinne in eigene Anlagen, weil sie wegen der Devisenkontrollen ihre Dividenden nicht mehr ans Mutterhaus überweisen können: Der Erntemaschinenhersteller Claas baut ein Schulungszentrum. Der familiengeführte Baumaterialhersteller Knauf hat ein zweites Werk errichtet an der Grenze zu Chile und beliefert von dort das Andenland mit Gipsplatten. Gewerbliche Immobilien seien derzeit so preiswert wie lange nicht mehr. Deren Kauf sei eine Möglichkeit, die Gewinne vor der Inflation zu schützen.
Den Standort Argentinien will trotz allen Schwierigkeiten kaum ein Unternehmen aufgeben. Denn die meisten haben in den letzten Jahren gut verdient. Argentinien wuchs nach der Krise vor dreizehn Jahren um durchschnittlich 6%. Ökonomen sind sich einig, dass Argentiniens Wirtschaft in kurzer Zeit saniert werden könnte. Die Unternehmen sind kaum verschuldet in Dollars. Im Vergleich mit den Schuldenstaaten Südeuropas ist das Haushaltsdefizit mit 3% des Bruttoinlandprodukts (BIP) gering – genauso wie die Verschuldung der Unternehmen und des Staates (18% des BIP). Das Land saldiert zudem ein geringes Leistungsbilanzdefizit von 1% des BIP.
Für Guillermo Parisi ist deswegen jetzt der richtige Zeitpunkt für einen Einstieg in Argentinien. Nach vielen Jahren bei Siemens berät er Mittelständler aus Europa beim Einstieg im Land. Richtig erfolgreich sei er damit zwar nicht, gibt er zu; die Konzerne seien zu zögerlich. Doch wer jetzt Geld investiere, könne billig in Argentinien einsteigen und gut verdienen in den nächsten Jahren, gibt sich Parisi überzeugt. Wie er sind sich viele Ökonomen einig, dass Argentiniens Wirtschaft in kurzer Zeit saniert werden könnte.
Auch George Soros ist wieder eingestiegen: Vor zehn Tagen verkündete der Investor, er habe sich mit einer halben Milliarde Dollar am argentinischen Erdölkonzern YPF beteiligt. Damit besitzt Soros 3,5% an YPF und ist viertgrösster Einzelaktionär. Es sei ein Gütesiegel für Argentinien, wenn jemand wie Soros wieder solche Summen investiere, meint der Finanzmann Charlie Hughes von Adecoagro. Jetzt muss Soros bei YPF nur noch die Erfolgsstory von Adecoagro wiederholen.

Börsenboom trotz Schuldenkrise

bu. ⋅ Es ist ein Widerspruch: Argentinien erlebt eine schwere Schuldenkrise – und die Börse in Buenos Aires boomt. Seit dem Zahlungsausfall vor einem Monat hat der Merval-Index um 20% zugelegt. Dieses Jahr gewann der argentinische Börsenindex 82%, in zwölf Monaten waren es gar 155%. Die Steigerung fällt jedoch bescheidener aus, wenn man die Kursgewinne umrechnet von Peso in Dollars. Der Unterschied zwischen dem offiziellen Wechselkurs und dem «Blue» genannten Schwarzmarktkurs des Dollars beträgt fast 70%. Die Inflation in Peso wird auf 35% geschätzt. Dennoch bleibt ein beträchtlicher Indexgewinn. Dieser lässt sich einerseits damit erklären, dass Unternehmen in Argentinien ihre Bargeldbestände mit Aktieninvestitionen gegen Inflation schützen. Anderseits erklärt der Ökonom Frederico Semeniuk die Kurssteigerungen mit Investitionen ausländischer Funds, die auf Aktien argentinischer Firmen setzen. Ausländische Investoren nutzen die Chancen, um in Argentiniens Landwirtschaft, Bergbau und Energie oder die Lebensmittelproduktion zu investieren. Die Investmentbank Morgan Stanley rechnet damit, dass an die argentinische Börse sofort 20 Mrd. $ flössen, sollte das Land seine Schuldensituation bereinigen. Mehrere internationale Banken überlegen, Funds mit argentinischen Anleihen und Aktien aufzulegen. Dennoch bleiben die Investitionen angesichts des instabilen Umfelds hochriskant: Die ausländischen Investoren würden noch immer damit rechnen, dass sich Argentinien bald mit den Funds einigen wolle – doch danach sehe es immer weniger aus. Wenn die Investoren der Meinung seien, dass die Krise sich noch länger hinziehe, könnten sie laut Semeniuk ihr Kapital auch ganz schnell wieder abziehen.

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