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Montag, 21. Oktober 2013

Daher wurde allen Gläubigern das Angebot gemacht, ihre je individuellen Titel in einheitliche (Nennwert, Zinssatz) Schuldpapiere umzutauschen, wobei zugleich gegen das Versprechen regelmäßiger Zahlung der Nominalwert der Schuld und ihr Durchschnittszinssatz gesenkt wurden. Das war faktisch ein Schuldenschnitt, auf den sich die Mehrzahl der Gläubiger im Vertrauen auf die zukünftige Solidität der sächsischen Finanzpolitik nach langen Verhandlungen schließlich einließ. Das Vertrauen wurde nicht enttäuscht. Die Schulden der ehemaligen Steuerkasse sanken von etwa 30 Millionen Talern 1764 auf 7,5 Millionen Taler 1806. Durch die Konversion wurden die nunmehr einheitlich gestückelten, mit festen Zins- und Rückzahlungsterminen ausgestatteten sächsischen Schuldtitel börsenhandelsfähig


SchuldenwirtschaftEs geht auch ohne

 ·  Schon vor 250 Jahren galt: Der Bankrott ist die Folge staatlicher Schuldenwirtschaft. Es hilft nur Haushaltsdisziplin. Das zeigt Kursachsen.
Am 5. Oktober 1763, also vor ziemlich genau 250 Jahren, starb in Dresden der sächsische Kurfürst Friedrich-August II., der zugleich als August III. König von Polen gewesen war. Sein Tod veranlasste seinen langjährigen Premierminister Heinrich Graf Brühl (1700-1763), der bereits August dem Starken, dem Vater des nun verstorbenen Kurfürsten, in leitender Stellung gedient hatte, zum Rücktritt. Lange konnte Brühl seinen „Ruhestand“ allerdings nicht genießen; am 28. Oktober 1763 starb auch er. Das bewahrte ihn davor, seine Amtsführung vor Gericht verteidigen zu müssen, galt er doch seinen Nachfolgern in Dresden geradezu als Verderber des Kurfürstentums. Ein entsprechender Prozess verlief zwar im Sande; gleichwohl kam es noch 1763 zum radikalen Bruch mit der Brühlschen Politik. Sachsen führte als erster deutscher Staat eine geordnete Finanzpolitik ein. Das Land war damit so erfolgreich, dass das kursächsische Rétablissement zu den wenigen Fällen von Haushaltssanierungen zählt, bei denen die Gläubiger nicht enteignet wurden. Allein das genügt, sich dieses Falls zu erinnern.
Ob Brühl nun korrupt war oder nicht: Bei seinem Rücktritt war der sächsische Staat finanziell ruiniert, und das keineswegs nur wegen des verlorenen Siebenjährigen Krieges (1756-1763). Die Ursachen der finanziellen Misere reichten sehr viel weiter zurück. Seit dem Ende des 17. Jahrhunderts hatte der Aufwand für Hofhaltung, Militär und machtpolitische Ambitionen (polnischer Thron) die Finanzen des wirtschaftlich durchaus leistungsfähigen Kurfürstentums überstrapaziert. Das laufende Schuldenmachen war damals (wie heute) nichts Außergewöhnliches. Brühl, der rasch in der Gunst August des Starken aufstieg, erwies sich hierin als überaus begabt. Er nahm laufend neue Schulden auf und ging Zins- und Tilgungsversprechen ein, ohne diese ernsthaft einzuhalten. Alte Schulden wurden gar nicht oder wenn, dann mit neuen Schulden bedient; im Laufe der Jahre ging schließlich in der ohnehin unübersichtlichen Organisation der Staatsfinanzen der Überblick verloren; eine hektische Schuldenwirtschaft nach Kassenlage setzte ein. Ende der 1740er Jahre stand Sachsen vor dem Bankrott, der nur dadurch abgewendet werden konnte, dass die unter dem Druck des Hofes und Brühls stehenden Stände weitere Kredite garantierten.
Sachsen rutschte so sehenden Auges in eine finanzielle Katastrophe, die mit dem Siebenjährigen Krieg dann auch eintrat. Bei Kriegsende 1763 betrug allein die Steuerschuld (also die von den Ständen garantierten Schulden) knapp 30 Millionen Reichstaler, eine Summe, die sich seit den 1830er Jahren verneunfacht hatte. Nimmt man die Schulden der Rentkammer und der Kriegskasse hinzu, beliefen sich die sächsischen Schulden zu dieser Zeit auf etwa 45 Millionen Taler, von den zu erwartenden Kontributionszahlungen an Preußen noch ganz abgesehen. Allein die Zinslast für diese Summe hätte die gesamten Steuereinnahmen in Höhe von gut 2 Millionen Talern verschlungen.
Es war selbst dem vor den Preußen nach Warschau ausgewichenen Dresdner Hof klar, dass die bisherige Misswirtschaft so nicht weitergehen konnte. Nicht zuletzt auf Druck des Leipziger Bürgertums wurde 1762 eine Restaurierungskommission eingesetzt. Diese Restaurierungskommission, die vor allem das Werk des früheren sächsischen Rates Thomas von Fritsch, eines Leipziger Buchhändlersohns, der 1741 wegen Brühls Finanzpolitik den Dienst quittiert hatte, war, legte ihren Schlussbericht im November 1763 vor. Durch den Tod von August III. und Heinrich Graf Brühl war nun auch politisch der Weg für eine grundlegende Sanierung frei, zumal der neue Kurfürsten Friedrich August III. keine Rückkehr in die Welt der früheren Pracht wünschte. Innerhalb eines Jahres kam es faktisch zum Austausch des gesamten höheren Personals in der Finanzverwaltung und seiner Ersetzung durch bürgerliche Experten, wobei Friedrich Ludwig Wurmb als Direktor der 1764 neu eingerichteten Landesökonomie-, Manufaktur- und Kommerziendeputation eine zentrale Rolle spielte. Thomas von Fritsch wurde Konferenzminister im Geheimen Konsilium und übernahm zugleich die Oberaufsicht über die sächsische Wirtschafts- und Finanzpolitik, für die sich rasch der Name „kursächsisches Rétablissement“ durchsetzte.
Worin bestand dieses Rétablissement? Deutlichster Ausdruck in finanzpolitischer Hinsicht war die 1773 etablierte Generallandeskasse, die das bisher zwischen Rentkammer und Steuerkasse zersplitterte kursächsische Finanzwesen unter einem Dach zentral zusammenfasste. Damit wurde erstmals eine einheitliche Finanz- und Schuldenpolitik möglich. Beim „Kassensturz“ wurde unmittelbar klar, dass Kursachsen die aufgelaufene Staatsschuld zum Nennwert und zu den vereinbarten Zinssätzen nicht bedienen konnte. Daher wurde allen Gläubigern das Angebot gemacht, ihre je individuellen Titel in einheitliche (Nennwert, Zinssatz) Schuldpapiere umzutauschen, wobei zugleich gegen das Versprechen regelmäßiger Zahlung der Nominalwert der Schuld und ihr Durchschnittszinssatz gesenkt wurden. Das war faktisch ein Schuldenschnitt, auf den sich die Mehrzahl der Gläubiger im Vertrauen auf die zukünftige Solidität der sächsischen Finanzpolitik nach langen Verhandlungen schließlich einließ. Das Vertrauen wurde nicht enttäuscht. Die Schulden der ehemaligen Steuerkasse sanken von etwa 30 Millionen Talern 1764 auf 7,5 Millionen Taler 1806. Durch die Konversion wurden die nunmehr einheitlich gestückelten, mit festen Zins- und Rückzahlungsterminen ausgestatteten sächsischen Schuldtitel börsenhandelsfähig. Die Kurse fast aller sächsischen Staatspapiere stiegen in den kommenden Jahren rasch an. Möglich wurde diese positive Entwicklung vor allem durch die Dotation eines Schuldentilgungsfonds, aus dem die Zinszahlungen bestritten und zunächst geringe, im Laufe der Zeit zunehmende Tilgungen vorgenommen wurden.
Der Kursverlauf zeigte, dass es der sächsischen Regierung angesichts des wiedergewonnenen Vertrauens bald leichtgefallen wäre, neue Kredite aufzunehmen. Doch die Staatsregierung hielt an ihrer strikten Haushaltsdisziplin fest; die Zeiten der außenpolitischen Abenteuer, der italienischen Hofoper, der Feste und Feuerwerke, der Prachtbauten und der unkontrollierten Apanagen war nach 1763 in Sachsen endgültig vorbei. Bereits 1773 erzielte das Land einen Haushaltsüberschuss; damit war man auch in der Lage, durch Investitionen in die Infrastruktur und das Bildungssystem die Voraussetzungen für die wirtschaftliche Entwicklung Sachsens zu verbessern.
Dass die Sanierung so schnell und so durchgreifend gelang, hing neben der Tatsache, dass die alte Misswirtschaft völlig diskreditiert und mit dem Rétablissment ein durchgreifender „Elitenwechsel“ verbunden war, zweifellos auch mit der günstigen Wirtschaftsstruktur Sachsens zusammen. Ihre Gefährdung durch die finanziellen Folgen des „barocken Absolutismus“ war in gewisser Hinsicht sogar ausschlaggebend für das bürgerliche Aufbegehren, das das Rétablissement eben auch war. Die wirtschaftlichen und finanziellen Möglichkeiten des Landes sollten zum Maßstab werden, nicht höfische Prunksucht oder politischer Größenwahn. Für die historische Erinnerung ist eine derart strikte Haushaltsdisziplin aus dem Geist einer „aufgeklärten“ Finanzpolitik indes nicht unbedingt vorteilhaft, haben doch die Hinterlassenschaften des Grafen Brühl, seine Bauwerke und ihr ausladender höfischer Stil in unserer Erinnerung einen großen Platz, während Thomas von Fritsch, vor allem aber dessen entscheidender Finanzfachmann Friedrich Ludwig Wurmb außerhalb mancher Historikerzirkel längst vergessen sind. Es ist in gewisser Hinsicht mehr als bezeichnend, dass man sich in der DDR in dem schuldenfinanzierten architektonischen Glanz der sächsischen Kurfürsten sonnte, während das Anwesen derer von Fritsch, Schloss Seehausen bei Riesa, 1949 kurzerhand in die Luft gesprengt wurde. Nach der Wende hat sich daran nicht viel geändert, auch wenn die derzeitige sächsische Regierung sich eher an der Finanzpolitik des Rétablissements zu orientieren scheint.
Sachsen war nach 1763 das seltene Beispiel der mustergültigen Sanierung eines faktisch bankrotten Staates, die ohne die Enteignung der Gläubiger auskam, ja von der die Gläubiger nach einiger Zeit trotz anfänglicher Nominalverluste sogar profitierten. Es war ein Sieg der bürgerlichen Vernunft! Der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes tat die Finanzdisziplin keinen Abbruch, im Gegenteil. Mangels Anlagemöglichkeiten in Staatspapieren suchte das vorhandene Kapital nach anderen Gelegenheiten und fand sie in der aufstrebenden sächsischen Industrie. Auch die ähnlich gelagerten Sanierungsprozesse in Großbritannien und Preußen im Zusammenhang mit den napoleonischen Kriegen erfreuen sich nicht unbedingt positiver Erinnerung, denn die Haushaltssanierung fiel nach 1815 in eine konjunkturell schwierige Zeit, so dass heute weniger die erfolgreiche Entschuldung Englands und Preußens als vielmehr die Zeit des Pauperismus und der Not der arbeitenden Klassen in Erinnerung ist, die einem vermeintlichen liberalen Nachtwächterstaat angekreidet werden.
Die wirtschaftliche Bedeutung dieser „liberalen“ Sanierungspolitik ist aber so einfach nicht zu beurteilen. Zweifellos gingen von den Staatshaushalten der Zeit nur geringe Anstöße aus, und auch von einer ernstzunehmenden Sozialpolitik konnte die Rede nicht sein. Andererseits zwang die staatliche Zurückhaltung beim Schuldenmachen die „Anleger“ jener Zeit, sich nach Alternativen umzusehen, und diese fand man vor allem in der jungen Industrie und den großen Infrastrukturprojekten (Eisenbahn).
Von den wirtschaftlichen Folgen einmal abgesehen, bestand der Kern der Sanierung der Staatsfinanzen, und das ist bemerkenswert, nicht allein, ja nicht einmal vorrangig im soliden Schuldenmanagement. Das war zweifellos wichtig; ausschlaggebend war die Haushaltsdisziplin, die in Sachsen unter dem Kurfürsten Friedrich August III., für den schon sein Vormund 1764 auf den polnischen Thron verzichtete, zumindest bis zu den späteren napoleonischen Kriegen strikt befolgt wurde. Diese einzuhalten, mag in einem modernen, demokratisch regierten Sozialstaat schwieriger sein als unter vorkonstitutionellen Verhältnissen, doch kann auch eine parlamentarische Regierung die Folgen einer anhaltenden Verschuldung nicht ignorieren.
Auch sie bezahlt schließlich den Preis, den Graf Brühl als Ergebnis der chronischen Neuverschuldung schon in den 1750er Jahren vor Augen hatte: Bankrott und Handlungsunfähigkeit. Moderne Staaten mögen den Zeitpunkt des Bankrotts durch das Anwerfen der Geldpresse hinausschieben. Vermeiden lässt er sich bei anhaltender Schuldenwirtschaft nicht. Die offene Frage ist daher auch gar nicht, ob es zu harter Sanierung kommt, sondern allein die nach ihrer Form: Gelingt es, der kumulativen Wucht des chronischen Schuldenmachens etwas vor dem Crash entgegenzusetzen, oder bedarf es erst eines Zusammenbruchs. Insofern stimmt auch das kursächsische Beispiel nicht unbedingt optimistisch, aber die nachfolgende Entwicklung verdeutlicht immerhin, dass es ohne dauerhafte Enteignung der Gläubiger geht, wenn man denn nur ernsthaft mit dem Schuldenmachen aufhört.
Professor Dr. Werner Plumpe lehrt Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Goethe-Universität Frankfurt.
Quelle: F.A.Z.

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