PRESSEMITTEILUNG Nr. 134/13
Luxemburg, den 17. Oktober 2013
Urteil in der Rechtssache C-218/12
Lokman Emrek / Vlado Sabranovic
Der Gerichtshof präzisiert den Umfang des Verbraucherschutzes bei
grenzüberschreitenden Käufen
Ein Verbraucher kann vor den inländischen Gerichten gegen einen ausländischen
Gewerbetreibenden, mit dem er einen Vertrag geschlossen hat, Klage erheben, wenn erwiesen ist,
dass der Gewerbetreibende seine Tätigkeiten auf den Staat des Verbrauchers ausgerichtet hat,
auch wenn das zum Ausrichten dieser Tätigkeiten eingesetzte Mittel nicht für den Vertragsschluss
ursächlich war
Die Verordnung Nr. 44/20011
bestimmt die Zuständigkeit der Gerichte in Zivil- und Handelssachen.
Grundsätzlich sind die Gerichte des Staates zuständig, in dem der Beklagten seinen Wohnsitz hat.
In bestimmten Fällen kann jedoch bei den Gerichten eines anderen Mitgliedstaats Klage erhoben
werden. So hat bei Verbraucherverträgen der Verbraucher auch die Wahlmöglichkeit, die Klage bei
dem Gericht seines Wohnsitzes zu erheben, wenn zwei Voraussetzungen erfüllt sind. Zum einen
muss der Gewerbetreibende seine beruflichen oder gewerblichen Tätigkeiten im
Wohnsitzmitgliedstaat des Verbrauchers ausüben oder sie auf irgendeinem Wege (z. B. über das
Internet) auf diesen Mitgliedstaat2
ausrichten und zum anderen muss der streitige Vertrag in den
Bereich dieser Tätigkeiten fallen.
Herr Sabranovic betreibt in Spichern (Frankreich), einem Ort nahe der deutschen Grenze, einen
Gebrauchtwagenhandel. Er unterhielt eine Internetseite, auf der französische Telefonnummern
und eine deutsche Mobilfunknummer, jeweils mit internationaler Vorwahl, angegeben waren. Herr
Emrek, der seinen Wohnsitz in Saarbrücken (Deutschland) hat und über Bekannte (und nicht über
diese Internetseite) von dem Unternehmen des Herrn Sabranovic erfahren hatte, begab sich
dorthin und kaufte einen Gebrauchtwagen.
In der Folge machte Herr Emrek vor dem Amtsgericht Saarbrücken Gewährleistungsansprüche
gegenüber Herrn Sabranovic geltend. Herr Emrek vertrat die Auffassung, das Amtsgericht
Saarbrücken sei nach der Verordnung Nr. 44/2001 für eine solche Klage zuständig. Aus der
Gestaltung der Internetseite von Herrn Sabranovic folge nämlich, dass dessen gewerbliche
Tätigkeit auch auf Deutschland ausgerichtet sei. Das Amtsgericht war jedoch anderer Ansicht und
wies die Klage als unzulässig ab.
Das Landgericht Saarbrücken, bei dem Herr Emrek Berufung eingelegt hat, ist dagegen der
Ansicht, dass die gewerbliche Tätigkeit von Herrn Sabranovic auf Deutschland ausgerichtet
gewesen sei. Es fragt sich jedoch, ob im vorliegenden Fall das zum Ausrichten der gewerblichen
Tätigkeit auf den Wohnsitzmitgliedstaat des Verbrauchers eingesetzte Mittel ‒ d. h. die
Internetseite ‒ für den Vertragsschluss mit diesem Verbraucher kausal sein müsse.
Der Gerichtshof stellt zunächst fest, dass der Wortlaut der Verordnung nicht ausdrücklich eine
solche Kausalität verlangt. Zudem hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass die
entscheidende Voraussetzung für die Anwendung der in Rede stehenden Vorschrift3
die auf den
1
Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die
Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, S.1).
2
Oder auf mehrere Staaten, darunter den Wohnsitzmitgliedstaat des Verbrauchers
3
Art. 15 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 44/2001.
www.curia.europa.eu
Wohnsitzstaat des Verbrauchers ausgerichtete berufliche oder gewerbliche Tätigkeit ist; das
Landgericht Saarbrücken hält diese Voraussetzung für erfüllt.
Zweitens stellt der Gerichtshof fest, dass eine solche zusätzliche, nicht in der Verordnung
vorgesehene Voraussetzung eines Kausalzusammenhangs dem mit dieser Verordnung verfolgten
Ziel zuwiderliefe, das im Schutz der Verbraucher besteht, die bei Verträgen mit einem
Gewerbetreibenden als schwächere Vertragspartei gelten. Das Erfordernis der vorherigen
Konsultierung einer Internetseite durch den Verbraucher könnte nämlich Beweisschwierigkeiten
mit sich bringen, insbesondere wenn, wie im vorliegenden Fall, der Vertrag nicht im Fernabsatz
über diese Internetseite geschlossen worden ist. Die Schwierigkeiten, die mit dem Beweis der
Kausalität verbunden sind, könnten die Verbraucher davon abhalten, die nationalen Gerichte ihres
Wohnsitzes anzurufen, wodurch der mit der Verordnung erstrebte Schutz der Verbraucher
geschwächt würde.
Der Gerichtshof antwortet deshalb, dass nach der Verordnung das zum Ausrichten der beruflichen
oder gewerblichen Tätigkeit auf den Wohnsitzmitgliedstaat des Verbrauchers eingesetzte Mittel,
d. h. eine Internetseite, nicht kausal sein muss für den Vertragsschluss mit diesem Verbraucher.
Allerdings kann dieser Kausalzusammenhang, auch wenn er keine Voraussetzung ist,
dennoch ein Anhaltspunkt sein, den der nationale Richter bei der Feststellung
berücksichtigen kann, ob die Tätigkeit tatsächlich auf den Wohnsitzmitgliedstaat des
Verbrauchers ausgerichtet ist.
Der Gerichtshof weist darauf hin, dass er in seiner bisherigen Rechtsprechung4
bereits eine nicht
erschöpfende Liste von Indizien aufgestellt hat, die einem nationalen Gericht bei der Beurteilung
der Frage helfen können, ob die entscheidende Voraussetzung der auf den Wohnsitzmitgliedstaat
des Verbrauchers ausgerichteten gewerblichen Tätigkeit erfüllt ist. Zu diesen Indizien gehören
insbesondere die „Aufnahme von Fernkontakt“ und der „Abschluss eines Verbrauchervertrags im
Fernabsatz“ für den Nachweis, dass der Vertrag an eine auf den Wohnsitzmitgliedstaat des
Verbrauchers ausgerichtete Tätigkeit anschließt.
Der Gerichtshof kommt zu dem Ergebnis, dass das vorlegende Gericht unter Gesamtwürdigung
der Umstände, unter denen der in Rede stehende Verbrauchervertrag geschlossen wurde, zu
entscheiden hat, ob aufgrund des Vorliegens oder Nichtvorliegens von Indizien – unabhängig
davon, ob sie auf der vom Gerichtshof erstellten nicht erschöpfenden Liste von Indizien stehen –
die für die Verbraucher günstige besondere Zuständigkeit gegeben ist.
HINWEIS: Im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens können die Gerichte der Mitgliedstaaten in einem
bei ihnen anhängigen Rechtsstreit dem Gerichtshof Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts oder nach
der Gültigkeit einer Handlung der Union vorlegen. Der Gerichtshof entscheidet nicht über den nationalen
Rechtsstreit. Es ist Sache des nationalen Gerichts, über die Rechtssache im Einklang mit der Entscheidung
des Gerichtshofs zu entscheiden. Diese Entscheidung des Gerichtshofs bindet in gleicher Weise andere
nationale Gerichte, die mit einem ähnlichen Problem befasst werden.
Zur Verwendung durch die Medien bestimmtes nichtamtliches Dokument, das den Gerichtshof nicht bindet.
Der Volltext des Urteils wird am Tag der Verkündung auf der Curia-Website veröffentlicht
Pressekontakt: Hartmut Ost (+352) 4303 3255
4
Urteil des Gerichtshofs vom 7. Dezember 2010, Pammer und Hotel Alpenhof, C-585/08 und C-144/09, (vgl. auch
Pressemitteilung Nr. 118/10) und Urteil vom 6. September 2012, Mühlleitner, C-190/11, (vgl. auch Pressemitteilung
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