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Montag, 5. Oktober 2015

Geplante Beschlagnahme Altbau mit Stuck für die Flüchtlinge Berlin greift zu drastischen Mitteln: Die Stadt will leerstehende Wohnungen für Flüchtlinge beschlagnahmen. Noch vor kurzem wäre das undenkbar gewesen.

Geplante BeschlagnahmeAltbau mit Stuck für die Flüchtlinge

Berlin greift zu drastischen Mitteln: Die Stadt will leerstehende Wohnungen für Flüchtlinge beschlagnahmen. Noch vor kurzem wäre das undenkbar gewesen.

© MATTHIAS LÜDECKERiehmers Hofgarten (erbaut zwischen 1881 und 1899) wird als „Oase mitten in Kreuzberg“ gepriesen. Jetzt könnten hier bald Flüchtlinge einziehen.
Riehmers Hofgarten in Berlin-Kreuzberg erstrahlt in hellem Weiß, so sauber wie schon seit Jahrzehnten nicht mehr. Doch hinter der frisch sanierten, denkmalgeschützten Fassade der Wohnanlage ist die Stimmung getrübt. Nicht nur der Eigentümer Matthias Bahr sorgt sich, auch seine Mieter. Die Bedrohung kommt direkt von der gegenüberliegenden Straßenseite, nur 100 Meter entfernt.
Dort liegt das Rathaus von Berlin-Kreuzberg, ein klobiger, etwas schäbiger Neubau, nicht einmal annähernd so prachtvoll wie der 1899 fertiggestellte Gebäudekomplex Riehmers Hofgarten mit seinen rund 200 Wohnungen, einer Privatstraße und Tiefgaragen. Im Kreuzberger Rathaus arbeitet die Bezirksverordnetenversammlung an einem Plan, der in Deutschland bisher einzigartig ist: Geht es nach dem Kreuzberger Bezirksverordneten Andreas Weeger, sollen die leerstehenden Wohnungen in Riehmers Hofgarten beschlagnahmt und als Flüchtlingsunterkünfte genutzt werden. Diese Unterkünfte werden dringend benötigt – und schließlich wisse jeder, der im Rathaus ein- und ausgehe, dass in den großzügigen Altbauwohnungen (bis zu 6 Meter hohe Decken, Dielenboden) seit dem Verkauf an private Investoren im Jahr 2006 die „Entmietung“ in vollem Gange sei. „Spekulativer Leerstand“ mache sich dort breit, wie es Weeger formuliert. Denn Wohnungen, die nicht nur aufwendig saniert, sondern vor allem unvermietet sind, lassen sich in dieser Lage zu Top-Preisen verkaufen.

Antrag auf Beschlagnahme gestellt

Den Grünen ist das schon lange ein Dorn im Auge, werden doch in der Berliner Innenstadt Wohnungen zunehmend knapp und teuer. Doch der Druck auf den Berliner Wohnungsmarkt hat durch die Massen an Flüchtlingen noch einmal deutlich zugenommen. Ende September hat Weeger deshalb einen Antrag auf Beschlagnahme gestellt, auch für vergleichbare Fälle. Die Mehrheit – nicht nur der Bezirksverordnetenversammlung, auch der Kreuzberger selbst – weiß er hinter sich. Nur abgestimmt werden konnte noch nicht, weil die CDU um Aufschub bat.
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Der Antrag hat den Immobilienbesitzer Bahr kalt erwischt. „Dinge, die bis vor kurzem undenkbar waren, werden jetzt zur Disposition gestellt“, sagt er. Mit dieser Bemerkung beschreibt er ziemlich treffend, was in Deutschland gerade vor sich geht. Denn die Kreuzberger mögen zwar die Ersten sein, die das Thema dermaßen konkret anpacken, aber die Frage, ob im Ernstfall auch leerstehende Gebäude beschlagnahmt werden müssen, damit rechtzeitig vor dem Winter jeder Flüchtling ein Dach über dem Kopf hat, treibt auch den Rest der Republik um. Im September haben die Flüchtlingszahlen neue Höchststände erreicht, inzwischen kommen bis zu 10.000 Asylsuchende pro Tag. Die Unterkünfte platzen aus allen Nähten, und der Winter steht vor der Tür.
Auch die Hamburger Bürgerschaft hat daher am vergangenen Donnerstagabend ein Gesetz beschlossen, das die Beschlagnahme leerstehender Gewerbeimmobilien zur Unterbringung von Flüchtlingen ermöglicht. Bremen plant Ähnliches, um für den Engpass gewappnet zu sein. Dabei geht es vor allem um Baumärkte, Lagerhallen, Bürogebäude. In Dresden wurde auch schon ein Mehrparteienwohnhaus beschlagnahmt. Allerdings legt man da Wert auf die Feststellung, dass dies „einvernehmlich“ geschah.
Zwang bei Privatimmobilien stand aber bisher nicht zur Disposition, insofern wird der Kreuzberger Bezirksverordnete Weeger nun zum Pionier. Immobilienbesitzer Bahr ist sich sicher, dass der Antrag durchgewunken wird. „Für solche Maßnahmen gibt es in diesem Bezirk eine robuste Mehrheit“, sagt er. Bis die ersten Flüchtlingsbusse vorfahren, könnte es allerdings noch dauern: Mit dem Antrag wird lediglich das Bezirksamt beauftragt, die Wohnungen zu beschlagnahmen. Dazu bedarf es dann aber erst einmal einer eingehenden Prüfung.

Nutzung als Flüchtlingsunterkunft eine ideale Lösung?

Solange Bahr noch eine Chance hat, hält er dagegen: „Spekulativen Leerstand“ gebe es bei ihm schlicht nicht, sagt der Investor, der den Großteil der traditionsreichen Wohnanlage vor rund zwei Jahren kaufte und seitdem herrichtet. Die meisten seiner Wohnungen seien vermietet, ungefähr zwanzig stünden leer. Viele davon würden gerade saniert, den Rest benötige er als Reserve für Mieter, die von Sanierungsarbeiten am Dach betroffen sind.
Lokalpolitiker Andreas Weeger meint trotzdem, er habe in seinem Antrag nur das Selbstverständliche zur Debatte gestellt. Die Nutzung als Flüchtlingsunterkunft sei die ideale Situation für alle Beteiligten, argumentiert er. „Die Nutzung ist garantiert nur temporär, außerdem bekommt der Eigentümer noch Geld, mindestens die ortsübliche Miete, außerdem werden Beschädigungen ersetzt.“
Riemers Hofgarten - Gespräch mit Mietern über die geplante Zwangseinweisung von Flüchtlingen in die Berliner Wohnanlage.© MATTHIAS LÜDECKEVergrößernSo sehen die Wohnungen in Riehmers Hofgarten aus.
Trotzdem rüttelt Weegers Vorschlag an dem lieblichen Traum der selbstlosen, allumfassenden Willkommenskultur, dem sich die Deutschen gerade hingeben. Denn wie weit ist es mit dieser Kultur wirklich her, wenn zu ihrer Durchsetzung Zwang angewendet werden muss? Zumindest beunruhigt der Plan auch diejenigen, die Flüchtlinge gern mit offenen Armen begrüßen wollen. Nur eben nicht alle auf einmal. Und nicht im eigenen Hinterhof.
In Riehmers Hofgarten zeigt sich das so deutlich wie kaum irgendwo in Deutschland, denn der historische Wohnkomplex ist nicht nur baulich, sondern auch gesellschaftlich speziell. Er ist ein Biotop der eher linken, bürgerlich-intellektuellen Mittelschicht, klassische Grünen-Mitglieder oder zumindest Grünen-Wähler: Architekten, Journalisten, Rechtsanwälte und Rentner, viele Altachtundsechziger. Es ist die Klientel, die womöglich bei ihrem eigenen Einzug, inzwischen aber jedenfalls anderswo als „Gentrifizierer“ wahrgenommen würde. In Kreuzberg pochen sie als Alteingesessene auf Milieuschutz.

„Ein Spiel mit dem Feuer“

Während sich die Grünen in der Bezirksverordnetenversammlung gerade für eine Beschlagnahme starkmachen, ist die grün sozialisierte Klientel in Riehmers Hofgarten über solcherlei Gedankengänge denn auch eher befremdet. Die meisten Mieter finden: Eine Handvoll Flüchtlingsfamilien würde man mit offenen Armen aufnehmen. Auch für ihr Wohlergehen und das richtige Maß an Integration könnte man sorgen. Aber idealerweise handelt es sich dabei um solche Flüchtlinge, die schon länger im Land sind, mit denen man sich irgendwie verständigen kann, kurz, um solche Flüchtlinge, die „am besten zu uns passen“, sagt der Rechtsanwalt Wolfgang von Reiche, der seit zwanzig Jahren Mieter in Riehmers Hofgarten ist und inoffiziell für eine Mieterinitiative der Wohnanlage spricht.
Das mag man für den heuchlerischen Anspruch einer bürgerlichen Mitte halten, dem Elend nur mit der größtmöglichen Distanz begegnen zu müssen. Tatsächlich dürfte es genau das sein, was sich viele für ihre Nachbarschaft wünschen. Von Reiche jedenfalls findet: „Alles andere halte ich für naiv. Es würde die Mieter hier überfordern.“ Zwang hält er für die schlechteste aller Optionen. In anderen Kommunen ist man da deutlicher, wenn auch nur hinter vorgehaltener Hand: „Ein Spiel mit dem Feuer“ sei die Beschlagnahme des privaten Wohneigentums.
Überhaupt ist die Beschlagnahme von Privatwohnungen nur der letzte Schritt in einer Kette pragmatischer Maßnahmen, die schon jetzt allerorten angewandt werden. Während über die Zwangsvermietung von Wohnungen und Luxusappartements noch gestritten wird, ist die Umwidmung öffentlicher Gebäude zu Flüchtlingsheimen schon in vollem Gange.
In der Hauptstadt wird dazu inzwischen gerne zum Mittel der Beschlagnahme gegriffen; dort scheint das Wort in den zuständigen Behörden schon längst seinen ursprünglichen Schrecken verloren zu haben. Dabei hilft eine großzügige Regelung im Berliner Polizeigesetz, die Beschlagnahmen zur „Gefahrenabwehr“ erlaubt.

Genaue Zahl der umfunktionierten Immobilien in Berlin unbekannt

Schon im Januar nahm das Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales ein Gebäude des Gesundheitskonzerns Vivantes in der Oranienburger Straße für die Vermeidung von Obdachlosigkeit von Aslybewerbern und Flüchtlingen „in Anspruch“, wie es heißt. Die Obdachlosigkeit von Flüchtlingen sei eine „gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Sicherheit, da ohne Obdach Leben und Gesundheit bedroht sind“, lautete die Argumentation des Landesamts. Widerstand gab es naturgemäß keinen, denn die Gesellschaft gehört der öffentlichen Hand, der Gesundheitssenator sitzt im Aufsichtsrat.
Rhiemers Hofgarten - Gespräch mit Mietern über die geplante Zwangseinweisung von Flüchtlingen in die Berliner Wohnanlage.© MATTHIAS LÜDECKEVergrößernFrüher Krawallquartier, jetzt Szenebezirk: die Bergmannstraße in Kreuzberg
Überhaupt scheint das Mittel der „einvernehmlichen Beschlagnahme“ inzwischen bei der Besorgung von Flüchtlingsunterkünften zum neuen Standard zu avancieren. Schließlich lässt sich auf diese Art schnell und unbürokratisch Abhilfe schaffen, ohne erst umständliche Verfahren in die Wege leiten zu müssen. Auch eine Immobilie des Energiekonzerns Vattenfall wurde so zur Flüchtlingsunterkunft umfunktioniert. Der Konzern habe die Immobilie proaktiv und freiwillig angeboten, „um einen Beitrag zu leisten“, schreibt eine Vattenfall-Pressesprecherin in einem Brief an die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. „Der Weg der Beschlagnahmung wurde im Einvernehmen mit dem Land Berlin gewählt, um bürokratische Wege zu vereinfachen.“ Auf die sonst übliche Entschädigung verzichtete Vattenfall.
Wie viele Berliner Immobilien schon auf diese Art umfunktioniert wurden, weiß man nicht, denn genaue Zahlen gibt der zuständige Senat für Gesundheit und Soziales nicht bekannt. Manche lästern allerdings, die Stadt tue gerade so, als sei sie jüngst zum Katastrophengebiet erklärt worden. Allerdings werden die Maßnahmen bisher in den meisten Fällen ohne Murren akzeptiert. Schließlich entsteht durch das Verfahren kein finanzieller Nachteil. Im Gegenteil: Für die Unterkünfte zahlt der Staat ordentlich. Es gibt mindestens die ortsübliche Miete, für Schäden, die durch die Flüchtlinge entstehen, kommt der Staat ebenso selbstverständlich auf.

Tausende Angebote jeden Monat

Deshalb kommen die meisten Kommunen auch ganz ohne Zwang aus, zumindest bisher. Denn gezahlt wird nicht nur im Fall einer Beschlagnahme, sondern auch, wenn der Besitzer sein Gebäude selbst zur Verfügung stellt. Tausende von Angeboten laufen jeden Monat in den Kommunen ein: Auf Lagerhallen, Bürogebäude und sogar Flusskreuzfahrtschiffe können die Städte inzwischen zurückgreifen, um die Flüchtlinge unterzubringen. Selbst schwer vermittelbare Hotels und Pensionen verdienen üppig daran, dass sie ihre freien Zimmer dem Staat zur Flüchtlingsunterbringung überlassen. Und kommen an einem Wochenende ganze Sonderzüge an, werden auch schnell einmal einige Turnhallen requiriert: In Frankfurt sind es sechs, in Stuttgart werden zurzeit vier Schulen übergangsweise genutzt.
Wo das Angebot so großzügig ist, in einigen Fällen zu großzügig, ist Zwang gar nicht nötig – das könnte auch im Fall Riehmers Hofgarten den Konflikt entschärfen. Besitzer Matthias Bahr jedenfalls hatte schon vor zwei Jahren dem zuständigen Landesamt acht, maximal 14 Wohnungen als vorübergehende Flüchtlingsunterkünfte angeboten – zur ortsüblichen Miete, versteht sich. Auch er nimmt nicht für sich in Anspruch, das aus reiner Nächstenliebe getan zu haben. Die Wohnungen standen leer, und eine zeitlich begrenzte, bezahlte Nutzung hat schließlich ihren Reiz. Wochenlang antwortete das Landesamt gar nicht auf dieses Angebot, dann lehnte es dankend ab. Man sei mehr auf Massenunterkünfte aus, Angebote für kleine Gemeinschaftsunterkünfte mit weniger als hundert Plätzen seien derzeit nicht realisierbar, hieß es.
Auch jetzt, Beschlagnahme hin, Beschlagnahme her, sei er zum Kompromiss bereit, sagt Bahr. Zwei bis drei Wohnungen, sagt er, könnte er zur Verfügung stellen. Grünen-Landespolitiker Weeger freut sich darüber. „Positiv überrascht“ sei er über das Angebot. Denn natürlich findet auch Weeger, dass Freiwilligkeit besser ist als hoheitliches Handeln. An seinem Antrag will er trotzdem festhalten. Schließlich geht es längst nicht mehr nur um Riehmers Hofgarten.

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