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Donnerstag, 15. Oktober 2015

Vertreten wurde Armenien unter anderem durch die Anwältin Amal Clooney, Ehefrau des Schauspielers George Clooney, was dem Strassburger Anlass zusätzliche Medienaufmerksamkeit verschaffte.

Armenier-Frage
Zwischen Meinungsfreiheit und Menschenwürde

Der Strassburger Gerichtshof hat am Mittwoch eine Anhörung im Fall Perincek durchgeführt, der den Genozid an den Armeniern nicht anerkennt. Die Schweiz spielt dabei wider Willen eine Hauptrolle.
  • von Katharina Fontana, Strassburg
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Während vor dem Gerichtshof in Strassburg demonstriert wird, wird drinnen vor den Richtern plädiert.
Während vor dem Gerichtshof in Strassburg demonstriert wird, wird drinnen vor den Richtern plädiert. (Bild: Sandro Weltin / Epa)
Der Fall «Perincek gegen die Schweiz» ist in verschiedener Hinsicht schwierig. Es geht um ungeheuerliches Unrecht, das im Osmanischen Reich während des Ersten Weltkriegs am armenischen Volk begangen wurde und zwischen den Armeniern und den Türken bis heute zu Konflikten führt. Es geht um die grundsätzliche Frage, inwieweit der Staat die Bürger auf eine offizielle Geschichtsschreibung verpflichten und Abweichler bestrafen darf. Und es geht nicht zuletzt um die Schweiz, die es bei der Bekämpfung der Rassendiskriminierung besonders gut machen wollte und sich vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) vorwerfen lassen muss, zu weit gegangen zu sein.

Zurückhaltender Perincek

Die Schweiz nimmt in der Angelegenheit, die grosse internationale Aufmerksamkeit auf sich zieht, wider Willen die Hauptrolle ein. Der türkische Nationalist Dogu Perincek war in der Schweiz wegen Rassendiskriminierung verurteilt worden, weil er 2005 bei mehreren öffentlichen Auftritten hierzulande den Genozid am armenischen Volk als «internationale Lüge» bezeichnet hatte. 2013 kam eine Abteilung des EGMR überraschend zum Schluss, dass die Schweiz damit die Meinungsfreiheit Perinceks verletzt habe. Die Schweiz, unter Druck der armenischen bzw. Gegendruck der türkischen Seite, zog den Fall an die Grosse Kammer des Strassburger Gerichtshofs weiter. Am Mittwoch nun hat die aus 17 Richtern bestehende Kammer die Parteien, also die Schweiz und Perincek, angehört.
Der 72-jährige Perincek war im proppenvollen Sitzungssaal persönlich anwesend. Obschon von Anwälten vertreten, durfte er vor Gericht das Wort ergreifen. Perincek gab sich zurückhaltend und betonte, dass er die Massaker am armenischen Volk nie geleugnet habe. Er sei einzig mit der rechtlichen Qualifikation, dass es sich bei den Geschehnissen von 1915 um Völkermord handle, nicht einverstanden. Dass international keine Einigung darüber bestehe, wie die Geschehnisse vor 100 Jahren juristisch zu bewerten seien, werde auch im EGMR-Urteil von 2013 bestätigt. Letztlich gehe es darum, das Recht auf unpopuläre Minderheitsmeinungen zu schützen.

Verweis auf den Volkswillen

Die Schweiz, vertreten durch Frank Schürmann vom Bundesamt für Justiz, führte ins Feld, dass die Strafrechtsnorm, auf die sich die Verurteilung Perinceks stützt, nicht die historische Wahrheit schütze, sondern den öffentlichen Frieden und die Menschenwürde. Diese Rechtsgüter seien durch Äusserungen, wie sie Perincek gemacht habe, gefährdet – und zwar unabhängig davon, dass sich in der Armenien-Frage nicht alle einig seien. Die Schweiz legte zudem grossen Wert auf den Umstand, dass der fragliche Strafartikel gegen Rassendiskriminierung von der hiesigen Bevölkerung 1994 an der Urne gutgeheissen worden war und dass dieses demokratische Element besonderes Gewicht verdiene. Ob sich der Strassburger Gerichtshof vom Schweizer Volkswillen beeindrucken lässt, ist indes eine andere Frage.
Neben Perincek und der Schweiz konnten sich auch die Türkei und Armenien als Drittintervenienten zur Sache äussern. Der Vertreter der Türkei wies dabei genüsslich darauf hin, dass man sich in der Schweiz selber keineswegs einig sei, ob es sich bei den Massakern von 1915 um Genozid handle oder nicht – tatsächlich hat es der Bundesrat, anders als der Nationalrat, wiederholt abgelehnt, die Tötungen und Deportationen der Armenier als Völkermord anzuerkennen. Deshalb sei es erstaunlich, so die türkische Seite, dass die Schweizer Gerichte Perincek als Völkermord-Leugner verurteilt hätten. Bei der Armenien-Frage handle es sich um ein Thema von öffentlichem Interesse, und politische Äusserungen dazu müssten in einer demokratischen Gesellschaft möglich sein – auch dann, wenn dies die Gefühle der Armenier verletze.

«Hierarchie von Opfern»

Dass sich die Türkei im Fall Perincek mit Verve für die Meinungsfreiheit einsetzt, führte auf der armenischen Seite zu spöttischen Bemerkungen. Vertreten wurde Armenien unter anderem durch die Anwältin Amal Clooney, Ehefrau des Schauspielers George Clooney, was dem Strassburger Anlass zusätzliche Medienaufmerksamkeit verschaffte. Die armenische Seite kritisierte das EGMR-Urteil von 2013 in scharfen Worten. Die Greuel, die Konzentrationslager und Todesmärsche, mit denen das armenische Volk vernichtet werden sollte, seien klar erwiesen, es handle sich eindeutig um einen Genozid. Es sei stossend, dass für den EGMR die Leugnung des Holocausts strafwürdig sei, die Leugnung anderer rassistisch motivierter Massenmorde dagegen nicht. Auch die Gesellschaft Schweiz-Armenien, die seinerzeit die Affäre Perincek durch eine Strafanzeige ins Rollen gebracht hatte, warnte in einer Medienmitteilung davor, eine «Hierarchie von Genozidopfern» zu konstruieren. – Mit dem Urteil der Grossen Kammer des Strassburger Gerichtshofs ist in einigen Monaten zu rechnen.

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