Krise in der UkraineTrügerische Signale der Entspannung
18.04.2014 · Nach Putins Fernsehauftritt und der Einigung von Genf zeigen sich Russlands Medien milde wie selten. Doch nicht nur in der Ukraine gibt es Zweifel am wahren Willen des russischen Präsidenten zur Deeskalation.
Von FRIEDRICH SCHMIDT, MOSKAU
Am Tag nach der Einigung von Genf hat es in Russland einige Zeichen der Entspannung gegeben. So ließ der staatliche Nachrichtensender Rossija 24, der seit vielen Wochen in schrillen Tönen über die angeblich von den Vereinigten Staaten gesteuerte „faschistische“ Revolution in Kiew berichtet, am Freitagmittag ausführlich den amerikanischen Präsidenten Barack Obama zu Wort kommen, der sagte, man glaube erst an den Erfolg der Genfer Konferenz, wenn man die Resultate mit eigenen Augen sehe.
Danach lobte ein Kommentator den „Kompromiss“ als „Wesen der Diplomatie“ und sagte, alle Seiten könnten das Ergebnis als Erfolg werten, auch Russland. Er verwies zwar auf eine angeblich in Genf vereinbarte „Dezentralisierung“ der Ukraine im Rahmen der Verfassungsreform und auf eine angeblich vereinbarte „Neutralität“ der Ukraine, Punkte, die sich nicht in der Erklärung vom Donnerstagabend finden; doch verglichen mit den jüngsten aufpeitschenden Berichten über heldenmütige „Selbstverteidigungskräfte“ in der Ostukraine wirkte die Argumentation sachlich.
Maßvolle Stimmen in Moskau
Weiteres kam hinzu, kleine Botschaften, die ohne entsprechende Fingerzeige des Kremls undenkbar wären. Nachdem die Parlamentarische Versammlung des Europarats in der vergangenen Woche Moskau wegen der Annexion der Krim verurteilt hatte, war in Russland angeregt worden, die Rückzahlung des russischen Finanzierungsanteils von 23 Millionen Euro zu fordern. Die Zeitung „Iswestija“ berichtete unter Berufung auf eine Quelle in der russischen Delegation in der Versammlung, diese Forderung werde „in den nächsten Tagen“ erhoben. Auch über einen Abzug der Delegation werde diskutiert.
Deren Vorsitzender, der Duma-Abgeordnete Alexej Puschkow, twitterte seinerzeit, er glaube nicht, dass man nach den „antirussischen Sanktionen“ der Versammlung in Straßburg noch von einem Dialog sprechen könne. Am Freitag nun sagte derselbe Puschkow in der Duma, die Debatte über die Rückforderung des russischen Beitrag solle enden, weil man das im Januar bezahlte Geld gar nicht zurückbekommen könne, und nannte einen Austritt aus der Organisation „nicht zweckmäßig“, weil ein solcher Weg in die „Selbstisolierung“ führe.
Eine ähnliche, ungewohnt maßvolle Stimme war am Freitag Walentina Matwijenko, die Präsidentin des Föderationsrats, des Oberhauses des Parlaments. Sie sagte einerseits, sie sei „überzeugt“ davon, dass Präsident Wladimir Putin von der Ermächtigung, die Streitkräfte in die Ukraine zu schicken, um dort Russen zu schützen, keinen Gebrauch machen werde, weil es nach der Genfer Einigung keine entsprechende „Notwendigkeit“ geben werde.
Andererseits sagte sie mit Blick auf den Umgang mit Andersdenkenden in Russland, Putin habe in seiner vierstündigen Livesendung „Direkter Draht“ vom Donnerstag „Mythen“ widerlegt, im Land würden „die Schrauben angezogen“. Sie behauptete: „Wir bleiben fest auf demokratischen Weg.“ In jüngster Zeit werden – nach entsprechenden Äußerungen Putins – Regierungsgegner auf Plakaten und im Internet als „Nationalverräter“ und „fünfte Kolonne“ des Westens dargestellt.
In seiner Sendung am Donnerstag hatte Putin diese Begriffe nicht neuerlich verwendet, sondern mit Blick auf den Anschluss der Krim vielmehr gesagt, man dürfe die Meinung der „Leute, die in der Minderheit sind“, nicht vergessen. Niemand werde daran gehindert, seine Meinung auszudrücken, sagte Putin, niemand werde dafür verhaftet oder in ein Lager geschickt, „wie es im Jahr 1937 war“, zur Zeit des Stalinschen Terrors. Nach der Sendung hatte Putin sogar einem Reporter des oppositionsnahen Privatsenders Doschd, den Kabel- und Satellitennetzbetreiber unter einem Vorwand aus ihrem Programm genommen haben und der ums Überleben kämpft, gesagt, wenn die Probleme auf eine „übermäßige Aufmerksamkeit“ von „Kontrollinstanzen“ zurückzuführen seien, werde er „alles“ tun, um den Sender davon zu „befreien“.
Äußerungen wie diese führten dazu, dass manche Beobachter in Putins Auftritt eine „Mäßigung“ oder gar „Gutmütigkeit“ erkennen wollten – auch mit Blick auf die Außenpolitik, insbesondere die Lage in der Ukraine.
Die Deutsche Presse-Agentur berichtete, am Tagungsort im Genfer Hotel Intercontinental habe eine „Botschaft“ Putins aus dem Fernsehauftritt „aufhorchen“ lassen: „Weder Panzer noch Kampfflugzeuge könnten den Ukraine-Konflikt lösen. Und plötzlich“, so die Agentur, „war auf den Hotelkorridoren Bewegung zu spüren“, „Diplomaten munkelten etwas von ‚neuen Entwicklungen’.“ Tatsächlich sagte Putin, dass in der Ukraine die „Ordnung“ nur durch „Dialog“ und „demokratische Verfahren“, nicht durch Streitkräfte, Panzer und Kampfflugzeuge wiederhergestellt werden könne. Zugleich jedoch hielt sich der Präsident alle Optionen offen – auch die militärische.
Widersprüchliche Signale
So sagte er über die Ermächtigung zum Truppeneinsatz: „Ich hoffe sehr, dass ich von diesem Recht keinen Gebrauch machen muss und dass die politisch-diplomatischen Mittel ausreichen, um die schärfsten Probleme zu lösen.“ Er sagte auch, derzeit stehe in der Ukraine nicht die Frage nach Wahlen oder einem Referendum im Vordergrund, sondern die Frage, wie die Rechte der russischen und russischsprachigen Bevölkerung im Osten des Landes garantiert werden könnten, und bezeichnete den sogenannten Antiterroreinsatz in der Ostukraine gegen die separatistischen Kräfte als „noch ein schweres Verbrechen der heutigen Machthaber in Kiew“, die er „nicht legitim“ nannte.
Die Anführer der Separatisten in der Südostukraine bezeichnete Putin als „die Herren jener Region“, mit denen geredet werden müsse. Russland hat weiterhin – laut Nato-Angaben – 40.000 Soldaten an seiner Westgrenze versammelt, die innerhalb von zwölf Stunden gefechtsbereit seien; die Nachrichtenagentur Reuters berichtete gar von „gesteigerter Aktivität“ in der Region.
Putin behauptete am Donnerstag aufs Neue, nirgendwo im ukrainischen Konfliktgebiet seien russische Militärs oder Geheimdienstmitarbeiter tätig. Zugleich gab er indes zu, auf der Krim hätten 20.000 russische Soldaten im Rücken der „Selbstverteidigungskräfte“ gestanden.
Außerdem stellte er – wie schon in seiner Rede zum Anschluss der Krim an Russland vor einem Monat – historisch inspirierte Ausführungen darüber an, aus denen offenbar folgen soll, dass Russland einen Anspruch auf große Teile des Ostens und Südens der Ukraine hat; am Donnerstag verwendete Putin für die Region die zarenzeitliche Bezeichnung „Noworossija“, die auch die Separatisten verwenden, und beklagte, Russland habe die Gegend „aus verschiedenen Gründen verloren“.
Folgt Transnistrien dem Beispiel der Krim?
Nicht nur mit Blick auf ein mögliches militärisches Vorgehen gegen die Ukraine, auch mit Blick auf Transnistrien hielt sich Putin alle Optionen offen. Die von Moldau abtrünnige Teilrepublik hatte am Mittwoch bei den Vereinten Nationen, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und in Moskau um eine Anerkennung ihrer Unabhängigkeit ersucht, offenkundig in der Hoffnung, dem Beispiel der Krim zu folgen, die nach russischer Lesart als unabhängiger Staat der Russischen Föderation beitrat.
Putin sagte dazu, die Bewohner Transnistriens – die 2006 in einem international nicht anerkannten Referendum mit rund 97 Prozent für den Beitritt zu Russland gestimmt hatten – sollten über ihre Zukunft selbst entscheiden dürfen. Neuerlich behauptete der Präsident, es gebe eine „Blockade“ Transnistriens durch Moldau und die Ukraine, deren „negative Auswirkungen“ die Bewohner der Region „jeden Tag spüren“.
Wenn es politisch opportun erscheint, könnte Putin auch hier eine Intervention oder einen Anschluss mit der Notwendigkeit begründen, Russen zu schützen. Zudem baute der Präsident ganz am Ende seines Auftritts eine weitere ideologische Vorbereitung der Russen auf einen Konflikt mit dem Westen ein: Er definierte den „russischen Menschen“ darüber, dass es für diesen, anders als im Westen, wo nur der persönliche Erfolg zähle, maßgebend sei, „dass es irgendeine höhere moralische Bestimmung“ und eine Entfaltung „nach außen“ geben müsse. In dem „Tod für den anderen, für sein Volk“ lägen die „tiefen Wurzeln unseres Patriotismus“.
In der Ukraine war denn auch die Skepsis nach der Einigung von Genf groß – zumal die Annexion der Krim in der Abschlusserklärung schon gar keine Rolle mehr spielte. Der einflussreiche Kiewer Journalist Mustafa Nayyem schrieb auf Facebook: „Genf 2014 = München 1938“. Die Europäer, nun auch die Amerikaner, machten denselben Fehler wie damals: Man müsse schon ein „klinischer Diplomat“ sein oder „Ashton oder Kerry“ heißen, „um ernsthaft zu glauben, dass Wladimir Putin die Krim genügt“.
Am Freitagabend schienen sich diese Befürchtungen zu konkretisieren, als das russische Außenministerium erklärte, Kiew müsse zunächst „faschistische“ Milizen entwaffnen.
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