Griechische SchuldenkriseDanke, Herr Tsipras!
Athen zwang die anderen Eurostaaten zur Beendigung von Verhandlungen, die zu deren eigener Bankrotterklärung hätten werden können. Denn den Griechen ging es nicht nur um ein paar Prozente hier oder dort. Jetzt aber heißt das Gebot der Stunde Schadensbegrenzung. Dann muss über Grundsätzliches neu nachgedacht werden. Ein Kommentar.
29.06.2015, von BERTHOLD KOHLER
© REUTERSDagegen geht immer. Demonstranten vor dem Parlament in Athen sagen „Nein“ zu weiteren Sparauflagen.
Der Europäischen Union stehen schwere Zeiten bevor. Die Regierung in Athen steuert ihr Land sehenden Auges in den Staatsbankrott, unter dem die Griechen am meisten leiden werden. Die Verwerfungen dieser Krise, die selbst in der an Konflikten reichen Geschichte der EU ihresgleichen sucht, lassen sich jedoch nicht auf Griechenland begrenzen. Über den Schaden, der dabei angerichtet wird, kann sich nur freuen, wer die EU schwächen oder am liebsten ganz von der politischen Landkarte tilgen will. Die Hauptverantwortung für dieses Desaster trägt die Regierung Tsipras, die in kürzester Zeit selbst ehemals unerschütterliche Griechenlandversteher gegen sich aufbrachte.
Dennoch muss man den Nationalkommunisten in Athen in einem Punkt fast dankbar sein: Sie ließen den bis zur Selbstverleugnung hilfsbereiten Geldgebern am Wochenende keine andere Wahl mehr, als Verhandlungen zu beenden, die zu deren eigener Bankrotterklärung hätten werden können. Denn der griechischen Regierung ging es bis zum Schluss nicht um ein paar Prozentpunkte beim Sparen weniger und ein paar Rentenjahre mehr, sondern um eine grundsätzliche Politikwende in Europa, beginnend in Griechenland, die mit Grundprinzipien des europäischen Einigungswerks gebrochen hätte.
© APAlexis Tsipras während seiner Fernsehansprache am Sonntagabend im gerade wieder eröffneten griechischen Staatsrundfunk.
Syriza hatte schon im Wahlkampf kein Hehl daraus gemacht, dass sie die Spar- und Sanierungspolitik nach dem Rezept Merkels für fundamental falsch hält. Die EU hat für diese ultralinke Sammlungsbewegung im Wesentlichen nur einen Zweck: Umverteilung. In manchen europäischen Hauptstädten verfolgte man das mit einer gewissen Sympathie. In anderen wollte man dieses Gerede nur für die übliche Rhetorik von linken Oppositionellen halten, aus denen die Regierungsverantwortung schon vernünftige Leute machen würde. Doch bei den Hardcore-Ideologen in Athen blieb diese Wandlung aus.
Sie empfehlen nun ihren Landsleuten, ein Hilfsangebot abzulehnen, das es gar nicht mehr gibt. Auch diese griechische Absurdität hat einen Hintersinn: Tsipras lässt die Griechen damit ein Urteil über die gesamte europäische Schuldenpolitik fällen. Pflichtet das Volk ihm bei, ist er ein großer griechischer Demokrat und Widerstandskämpfer (gegen Merkel). Folgt es ihm wider Erwarten nicht, sind die Geldgeber schuld daran gewesen, dass es so weit kam. Im griechischen Parlament konnte man schon hören, dass der Rest Europas nur von eiskalten Nordeuropäern und Faschisten bevölkert wird.
© REUTERSAbgang oder Rauswurf? Der griechische Finanzminister Giannis Varoufakis verlässt am Samstagnachmittag schnellen Schritts die Sitzung der Eurogruppe.
Kann denn Demokratie Sünde sein? Tsipras hatte offenbar geglaubt, dass dieser Trumpf alle anderen Prinzipien stechen müsste, die in den Verhandlungen schon weit über Gebühr strapaziert worden waren: Solidarität, Verlässlichkeit, Vertragstreue. Doch mit dieser nächtlichen Brüskierung überreizte er sein Blatt. Gleichzeitig stiftete er damit politische Einigkeit in der Eurogruppe. Niemand kann jetzt mehr glauben, dass mit Tsipras und seinen Gesellen ein Staat zu machen ist, jedenfalls ein halbwegs funktionierender. Sie können das Loch, das man in Athen Haushalt nennt, nicht stopfen, weil sie es nicht stopfen wollen.
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Dennoch bleibt diese Truppe an der Macht und Griechenland ein Mitglied von EU und Nato. Die anderen Mitgliedstaaten der EU können schon aus Eigeninteresse Griechenland nicht untätig in die bodenlose Grube stürzen lassen, die es sich gegraben hat, nicht erst unter der amtierenden Regierung. Das Gebot der Stunde heißt Schadensbegrenzung, in Griechenland selbst, aber auch jenseits seiner Grenzen. Kommt es zum Staatsbankrott, dann wird sich zeigen, ob die in den letzten Jahren konstruierten Sicherungsmechanismen die Eurozone vor schweren Erschütterungen schützen können. Doch wie geht es weiter? Folgt automatisch der „Grexit“? Kann ein Land aus der Währungsunion ausscheiden, aber Mitglied der EU bleiben? Die Griechenland-Krise wirft viele Fragen auf, für die man weder in Brüssel noch in Berlin schon Antworten hat.
Auch über ganz Grundsätzliches muss neu nachgedacht werden. Das erste Gesetz des europäischen Einigungsprozesses lautete bisher: vorwärts immer, rückwärts nimmer. Schon Stillstand galt als Gefahr. Die Angst um die Stabilität des ganzen Gebäudes war der Hauptgrund, warum die anderen Europäer Griechenland fast um jeden Preis über Wasser und in der Eurozone halten wollten. Der Fall Griechenland, und nicht nur er, macht freilich deutlich, dass der „Prozess der immer engeren Union der Völker Europas“, wie es im EU-Vertrag heißt, kein Selbstläufer ist. Dieser Prozess muss variabler gestaltet und mit Notausgängen ausgestattet werden, wenn man ein Projekt erhalten will, das mit genug Belastungen und Bedrohungen von außen zu kämpfen hat.
Die größte Gefahr aber schlummert in seinem Inneren: Denn nicht nur die Vorstellungen von Regierungen über Ziel und Zweck dieser Union klaffen mitunter weit auseinander, sondern auch die Vorstellungen von ganzen Völkern. Das könnte das griechische Referendum den fassungslosen Politikern in den anderen Hauptstädten noch einmal vor Augen führen, obwohl schon der Wahlsieg von Syriza in dieser Hinsicht nicht misszuverstehen war. Doch manche Erkenntnisse über das zu seinem Glück vereinte Europa sind eben schwer zu ertragen.
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