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Donnerstag, 2. April 2015

Nach der Eroberung Konstantinopels – des zweiten Rom – durch die Osmanen 1453 verstand sich das zaristische Russland als das dritte Rom.

Russlands byzantinisches Erbe

Cyrill Stieger ⋅ Die im 9. Jahrhundert entstandene Kiewer Rus erlebte im 11. Jahrhundert ihre Blütezeit. Das Zentrum des ersten ostslawischen Herrschaftsverbandes, der sich im Norden und Westen bis nach Karelien und Polen ausdehnte und damit Teile des heutigen Russland, die Ukraine und Weissrussland umfasst, war in Kiew am mittleren Dnjepr. Den Namen Rus, aus dem sich die Bezeichnung «Russen» ableitet, erhielt das Reich von normannischen Kriegern und Kaufleuten aus Skandinavien, die den Anstoss zur Bildung der Kiewer Rus gaben. Grossfürst Wladimir (ukrainisch: Wolodymyr) übernahm 988 das Christentum byzantinischer Prägung. Kirchen- und Literatursprache wurde aber nicht das Griechische, sondern das Kirchenslawische, das alle Ostslawen der Kiewer Rus verstanden. Im 13. Jahrhundert nahmen die zentrifugalen Tendenzen zu, und der Schwerpunkt verlagerte sich immer mehr nach Moskau.
Über die Frage, wer die Erben des Kiewer Reichs sind, wurde vor allem im 19. Jahrhundert heftig gestritten. Es war eine politische Auseinandersetzung. In der Moskauer Geschichtsschreibung galt die Kiewer Rus als russisches Staatsgebilde. Nach Meinung ukrainischer Historiker hingegen war sie ukrainisch und damit die Wiege der ukrainischen Eigenstaatlichkeit. In der Sowjetunion, zu der auch die drei ostslawischen Staaten Russland, Weissrussland und die Ukraine gehörten, wurde das Kiewer Reich aus politischen Gründen offiziell als ostslawisch definiert, auch wenn die Meinung vorherrschend blieb, die Russen seien die wahren Erben. Die Übernahme des östlichen Christentums durch die Kiewer Rus hatte weitreichende Folgen. Grundlegend für das Verhältnis zwischen Staat und Kirche in der Orthodoxie ist das byzantinische Konzept der Symphonia, der Harmonie zwischen weltlicher und geistlicher Macht. Staat und Kirche sollen zusammenwirken und sich ergänzen. Entsprechend der byzantinischen Staatsvorstellung beschützt die weltliche Macht die religiös definierte Gesellschaft, und der Patriarch verschafft dem Staat die religiöse Legitimation. Nach der Eroberung Konstantinopels – des zweiten Rom – durch die Osmanen 1453 verstand sich das zaristische Russland als das dritte Rom. Seither macht das Moskauer Patriarchat dem Ökumenischen Patriarchen in Istanbul den Rang eines Ehrenprimas und geistlichen Führers aller orthodoxen Christen immer wieder streitig.

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