Ukraine-KriseDie dicke rote Linie der Nato im Baltikum
In Reaktion auf die Annexion der Krim überarbeitet die westliche Militärallianz ihre Verteidigungspläne für die baltischen Staaten. Eine dauerhafte Präsenz von Nato-Kampftruppen in Lettland, Litauen und Estland ist im Gespräch. Aber wieviel könnten sie im Ernstfall ausrichten?
11.05.2014, von THOMAS GUTSCHKER
Ende dieser Woche waren die Botschafter aller 28 Nato-Staaten in Estland. Sie besichtigten das Exzellenz-Zentrum zur Abwehr von Cyberangriffen, eine Denkfabrik der Allianz, und besuchten eine Luftwaffenbasis, von der aus Nato-Kampfflugzeuge den Luftraum über dem Baltikum überwachen. Die Reise war schon vor ein paar Monaten geplant worden, aber nun passte sie umso besser ins Bild: Die Nato bemüht sich derzeit sehr, die Staaten an der Grenze zu Russland, insbesondere die drei baltischen, ihrer Solidarität zu versichern.
Die Balten werden zwar nicht direkt bedroht, aber die Ereignisse der vergangenen Wochen haben ihr ohnehin ausgeprägtes Unsicherheitsgefühl verstärkt. „Es macht uns einfach Angst, wenn der russische Präsident sich das Recht herausnimmt, in einem fremden Land zu intervenieren, um dort angeblich Russen zu schützen“, sagt der lettische Außenminister Edgars Rinkevics. Man muss dazu wissen: Ein Drittel der Einwohner Lettlands und Estlands ist russischstämmig, und etwa die Hälfte von ihnen besitzt nicht einmal die Staatsangehörigkeit.
Außerdem stehen russische Truppen fast an der Grenze. Rinkevics berichtet von einem Geschwader, das nur 26 Kilometer entfernt stationiert sei. Dort habe sich die Zahl der Kampfhubschrauber in letzter Zeit verdoppelt, und es fänden Flugübungen statt – eine Demonstration russischer Stärke.
Dicke rote Linie
Nicht nur für die drei baltischen Staaten, für die Nato insgesamt steht eine Menge auf dem Spiel. Sie hat klargemacht, dass sie Russland in der Ukraine nicht militärisch stoppen wird. Zugleich hat sie eine dicke rote Linie um ihre östliche Außengrenze gezogen. Im „hypothetischen Fall“ eines russischen Überfalls „würden wir alle notwendigen Maßnahmen zur Verteidigung Estlands treffen“, sagte Nato-Generalsekretär Rasmussen vergangene Woche der F.A.S.
Das klingt kraftvoll. Aber es ist leichter gesagt als getan. Denn so recht weiß niemand, ob die Nato die drei kleinen Staaten an ihrer nordöstlichen Flanke wirksam verteidigen könnte, wenn plötzlich russische Panzer über die Grenze rollten und Elitetruppen strategisch bedeutsame Ziele einnähmen. Die russische Kommandoaktion auf der Krim hat im Hauptquartier der Allianz mächtig Eindruck gemacht. Ohne Vorwarnung hatten sich Spezialkräfte Ende Februar die Halbinsel unter den Nagel gerissen. „Ich hätte mir so was im Traum nicht vorstellen können“, gibt ein erfahrener Diplomat zu, „obwohl wir in Sachen Russland ja schon einiges erlebt haben.“
Zum Beispiel den Georgien Krieg im Sommer 2008. Auch damals hatten sich russische Truppen im Zuge von Manövern in Stellung gebracht, der Aufmarsch war wochenlang vorbereitet worden. Allerdings gab Georgien den ersten Schuss auf Südossetien ab, und die folgende Intervention war kein Ruhmesblatt für die russischen Streitkräfte. Zwar hatten sie nach fünf Tagen ihre Ziele erreicht, aber nur wegen ihrer Überzahl und mit empfindlichen Verlusten.
Nato-Strategen fanden schnell heraus, dass die russischen Truppentransporter schlecht geschützt waren, die Einheiten untereinander keinen Kontakt hatten und es ihnen nicht gelang, die georgische Luftabwehr auszuschalten. Für die Balten war das aber nur eine schwache Beruhigung. Sie identifizierten sich mit den Georgiern und begannen zu fragen, ob die Nato sie wirklich vor einer russischen Intervention schützen würde. „Wir können uns auf weitere politische Forderungen nach einem umfassenden Plan der Nato zur Verteidigung der Balten einstellen“, kabelte der amerikanische Botschafter in Riga ein paar Tage nach Kriegsende an das State Department.
Denn einen solchen Plan gab es nicht. Als die baltischen Staaten 2004 dem Bündnis beigetreten waren, sah die Nato Russland noch als Partner. Die Neuen mussten sich mit Luftraumpatrouillen der Verbündeten zufriedengeben – was auch bitter nötig war, weil keines der Länder bis heute über eine Luftwaffe verfügt. Die Russen wiederum begannen an ihren militärischen Defiziten zu arbeiten – und fühlten sich im September 2009 stark genug, ihre westlichen Nachbarn zu provozieren. Russische und weißrussische Truppen hielten in Grenznähe das größte Manöver seit sowjetischen Zeiten ab. Übungsauftrag: einen Angriff aus Polen und Litauen zurückschlagen und mit einem Gegenangriff kontern.
Den polnischen Plan erweitern
Sogar der Einsatz taktischer Atomraketen wurde simuliert. Westliche Beobachter waren nicht zugelassen. Alle östlichen Nato–Staaten waren aufgebracht. Polen beschwerte sich darüber, dass die Nato „schwieg“. Der estnische Botschafter zitierte im Nordatlantikrat aus einer streng geheimen Nato-Analyse, in der es hieß, „dass Russland weiterhin die Glaubwürdigkeit und den Zusammenhalt der Allianz testen wird, einschließlich ihrer Bereitschaft zur gemeinsamen Verteidigung“.
Der interne Zwist wurde später publik, als Wikileaks einen Haufen amerikanischer Botschaftsdepeschen veröffentlichte. Diese Dokumente bieten einen tiefen Einblick in das, was folgte. Die baltischen Staaten drangen gegenüber Washington und der Nato auf eigene Verteidigungspläne, im Nato-Jargon „contingency plans“. Das konnte und wollte ihnen nun niemand mehr abschlagen, schließlich existieren solche Pläne für alle anderen Mitgliedstaaten. Der deutsche Nato-Botschafter forderte, den ohnehin gerade in der Revision befindlichen Verteidigungsplan für Polen namens „Eagle Guardian“ („Schützender Adler“) zu erweitern.
Das ging schneller und ersparte dem Bündnis eine grundsätzliche Debatte über die Einschätzung Russlands. Washington konnte gut damit leben, weil Präsident Obama sich gerade um einen „Neu-Start“ in den Beziehungen zu Moskau bemühte. Im Januar 2010 stimmte der Nato-Militärausschuss dem Vorgehen zu, Ende des Jahres waren die Planungen abgeschlossen.
Militärische Details fehlen
Militärische Details der Verteidigungsplanung kommen in den Depeschen nicht vor. Jedoch berichtete eine polnische Zeitung darüber. Demnach sind neun Nato-Divisionen (jeweils mindestens 10.000 Mann) für die Verteidigung Polens und der baltischen Staaten vorgesehen, darunter auch deutsche. Außerdem wurden Häfen in Polen und Deutschland ausgewählt, in denen britische und amerikanische Truppen im Verteidigungsfall anlanden sollen.
Truppenbewegungen dieser Größenordnung brauchen allerdings mehrere Monate. Schneller ist die Nato Response Force verfügbar, eine spezielle Eingreiftruppe. Ihre Speerspitze soll schon nach fünf Tagen in ein Einsatzgebiet verlegt werden können und einen Monat durchhalten. Für diese Truppe gibt es eigene Einsatzpläne – ob sie auch die baltischen Staaten betreffen, ist nicht bekannt.
Dass die baltischen Staaten mehr Schutz benötigen, haben die Mitgliedstaaten in den vergangenen Wochen selbst zu erkennen gegeben. In Reaktion auf die Annexion der Krim weiteten sie ihre Luftraumüberwachung im Baltikum aus und schickten Awacs-Aufklärungsflugzeuge nach Polen und Rumänien. Die Amerikaner stationierten in Polen und jedem der drei baltischen Staaten eine Kompanie mit 150 Mann – für „militärische Übungen“.
Politisch ist die Sache heikel
Es handelt sich aber nicht um ein befristetes Manöver; vielmehr ist vorgesehen, dass die Einheiten alle vier Wochen ausgetauscht und erneuert werden. Bei der Nato wird argumentiert, dass diese Präsenz nicht bloß symbolisch sei. Sie demonstriere vielmehr, dass jeder Angriff automatisch die Vereinigten Staaten auf den Plan rufen werde.
Anfang April beauftragten die Nato-Außenminister die militärische Führung, die Verteidigungspläne zu überarbeiten, die Stationierung von Truppen und Material zu überprüfen und militärische Übungen zu verstärken. Am Zug sind jetzt die Planer im militärischen Hauptquartier der Allianz. Ihr Chef ist der amerikanische General Philip Breedlove, der Nato-Oberkommandierende für Europa. Breedlove sprach diese Woche schon einmal von einem neuen sicherheitspolitischen Paradigma, das eine Revision des Stationierungskonzepts erzwinge.
Am Ende müssen die Mitgliedstaaten entscheiden. Bei den Treffen der Außen- und Verteidigungsminister im Juni und beim Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs im September wird es deshalb auch um längerfristige Konsequenzen der Ukraine-Krise gehen. Politisch ist die Sache heikel. Als die Nato und Russland 1997 ihre Zusammenarbeit auf ein neues Fundament stellten, sagte die Allianz zu, „substantielle Kampfeinheiten“ nicht auf dem Territorium der neuen östlichen Mitgliedstaaten zu stationieren.
„Tief im Maschinenraum der Nato“
Das galt zwar nur, solange keine neue Bedrohung entsteht. Doch will die Mehrzahl der Nato-Mitglieder Moskau jetzt keinen Vorwand dafür liefern, den Vertrag aufzukündigen. Es wird also nach Veränderungen gesucht, die sich in dessen Rahmen halten. Die deutsche Verteidigungsministerin möchte derzeit lieber nicht über ihre Vorstellungen sprechen; die Überlegungen fänden derzeit „tief im Maschinenraum der Nato“ statt, lässt sie ihren Sprecher ausrichten. Auskunftsfreudiger sind die Außenminister der drei baltischen Staaten.
„Es ist notwendig, die Abschreckungsfähigkeiten der Nato in der Ostseeregion zu erhöhen, um die vermehrte russische Militärpräsenz in Kaliningrad auszugleichen“, sagt der estnische Außenminister Urmas Paet. „Das hätte schon vor der russisch-ukrainischen Krise geschehen müssen, jetzt ist es umso dringender.“ Auch der litauische Außenminister Linas Linkevicius hält die „dauerhafte Stationierung verbündeter Truppen“ für erforderlich.
Er begrüßt ausdrücklich einen Vorschlag des SPD-Verteidigungspolitikers Rainer Arnold. Arnold hatte in der F.A.S vorgeschlagen, multinationale Einheiten aufzustellen und teilweise in den östlichen Staaten zu stationieren. „Diese Idee wäre ein guter Ausdruck der Solidarität unter den Verbündeten“, so Linkevicius. Sein lettischer Kollege Rinkevics erinnert daran, dass die Nato im Kalten Krieg eine multinationale Brigade in Norwegen stationiert hatte: „Diese Idee gefällt mir immer noch sehr, sehr gut.“
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