Russland im Spiegel seines Strassenverkehrs
«Fart» oder: Glück gehabt
Wer einen tieferen Einblick in die mafiöse Funktionsweise des russischen Staates haben will, suche sich einen Fahrer, steige in dessen alten Lada und wähle eine der Magistralen, die nach Moskau führen. Wenn er denn lebend ankommt, wird seine Geldbörse mit hoher Wahrscheinlichkeit dünner sein.
Laut dem spöttischen Urteil, das diversen historischen Persönlichkeiten von Alexander Puschkin bis zu Nikolai Gogol und Zar Nikolaus I. zugeschrieben wird, gibt es in Russland «zwei Übel: Dummköpfe und Fahrwege». In der Tat hatten die Dichter und Denker die russischen Strassen und ihre Unwägbarkeiten immer wieder mit viel Galgenhumor bedacht. Auch das vernichtende Urteil des Marquise de Custine – «In Russland gibt es keine Strassen, sondern lediglich Himmelsrichtungen» – lastete seit 1839 schwer auf der russischen Seele.
Besonderheiten der nationalen Fahrt
Die Don-Magistrale, die Moskau mit Rostow am Don im Süden verbindet, ist eine der besten überregionalen Verkehrsachsen Russlands. Uns, zwei Frauen, steht bevor, insgesamt 3000 Kilometer zurückzulegen. Nicht, dass wir uns kein anständiges Mietauto leisten könnten. Doch meine Freundin glaubt, mit einem alten ärmlichen Fahrzeug würden wir der räuberischen Verkehrspolizei weniger auffallen. Ausserdem sollten wir nicht selbst am Steuer sitzen und die Verantwortung lieber an eine Vertrauensperson abgeben. Unser wortkarger Fahrer Nikolai, ein pensionierter Ingenieur, besitzt einen sowjetischen Lada, der, wäre diese Kiste ein Mensch, in der Hierarchie der Fahrzeuge kurz vor dem Strassenfeger käme. Nikolai fährt langsam, besonnen und bleibt die meiste Zeit auf der rechten Spur. Das kann einen zur Weissglut bringen. Zugleich ist das eine Position, von der aus sich im Beifahrersitz ohnmächtig und stundenlang der Verkehr beobachten lässt.
Dumm nur, dass unsere Rechnung trotzdem nicht aufgeht. Mit der Klapperkiste von Lada erleiden wir am zweiten Tag Schiffbruch. An der Verwaltungsgrenze zwischen dem Woronescher und Rostower Gebiet winkt uns ein dickbäuchiger Polizist in schneeweissem Hemd an den Strassenrand. Nikolai erbleicht und steigt aus. Prompt wird ihm Geschwindigkeitsüberschreitung vorgeworfen. Dafür soll er 500 Rubel hinblättern. In Wirklichkeit besteht unser Vergehen darin, dass der Lada ein Moskauer Kennzeichen hat. Für den Polizisten ein willkommener Vorwand, die Eindringlinge für ihre imaginäre Grenzüberschreitung zu bestrafen, während er die Luxuskarossen mit den schwarz getönten Fensterscheiben vor unseren Augen passieren lässt. Darin könnten ja bewaffnete Tschetschenen oder einflussreiche Bosse sitzen. Der klapprige Lada ist dem amtlichen Wegelagerer indes schutzlos ausgeliefert. Wie ein begossener Pudel kehrt Nikolai zum Auto zurück. Er schweigt mehrere Stunden lang, bis wir in Rostow sind.
Der gewöhnliche Amok
Auf dem Rückweg nach Moskau – wir haben bereits an die 1800 Kilometer hinter uns – fängt Nikolai an durchzudrehen. Wie aus heiterem Himmel setzt er zu einem sinnlosen Überholmanöver an, und zwar auf einer leeren Strasse, dazu noch über der Abbiegespur und in Sichtweite eines Kontrollpostens. Das kostet uns weitere 1000 Rubel. Am selben Tag geraten wir in einen durch Bauarbeiten verursachten Stau. Die Strasse geht bergauf, wir stehen hinter einem LKW, der unser Auto in eine Abgaswolke hüllt, und Nikolai sitzt wie versteinert am Steuer. Doch mich beschleicht das Gefühl, dass sich in ihm etwas Ungutes zusammenbraut. In der Tat fährt er plötzlich schräg nach rechts, gibt Gas und holpert über Kies am Stau vorbei. Es vergeht kaum eine Minute, bis ein süffisant lächelnder Polizist ihn von der Anhöhe herbeiwinkt. Das Zeichen für Bauarbeiten hat sich als Falle entpuppt. Die dritte Strafe will der Arme aus eigener Tasche bezahlen. Die Frage, warum Nikolai erneut durchgedreht ist, obwohl er kurz zuvor hat bluten müssen, beschäftigt mich tagelang.
Auch in anderen Gegenden, etwa an der oberen Wolga mit den alten russischen Städten Jaroslawl, Kostroma und Rybinsk, gibt es genug Anlässe, über die Besonderheiten des russischen Verkehrs nachzudenken. Dabei lassen sich nach der Absolvierung von Tausenden von Kilometern mit verschiedenen Auto- und Menschentypen gemeinsame Verhaltensmuster ausmachen.
So wäre es sicher falsch anzunehmen, dass der eine Fahrer, mit dem wir aus Jaroslawl nach Rybinsk fuhren, die Absicht hegte, seine Fahrgäste umzubringen. Auch ein anderer, der uns nach Kostroma mitnahm, hatte vermutlich nicht vor, mit uns an Bord einen kollektiven Selbstmord zu inszenieren. Vielmehr sah die Fahrweise der beiden Männer so aus, als ob sie nicht wüssten, warum sie so fuhren, wie sie fuhren. Erschreckend und zugleich faszinierend war das scheinbar unmotivierte Herbeiführen von Risiken, die in keinem Verhältnis zur konkreten Verkehrssituation auf der Strasse zu stehen schienen.
Da die Fahrbahnen gut und ziemlich frei waren, blieb uns ein Rätsel, wem ihre aus unserer Sicht unberechenbaren Allüren und Manöver eigentlich galten. Den Höhepunkt der Absurdität erleben wir auf einer ruhigen Landstrasse, in der unser Fortkommen von einem langsam fahrenden LKW behindert wurde. Normalerweise ergreift man in solchen Situationen eine passende Gelegenheit, das Hindernis zu überholen. Doch unser Fahrer kriecht geduldig hinter dem LKW her, obwohl auf der Gegenfahrbahn geraume Zeit kein Auto in Sicht ist. Erst in dem Augenblick, da er einen ihm entgegenrasenden Wagen gesichtet hat, gibt er Gas und startet im Angesicht des Todes ein Überholmanöver. Danach scheint er sich zu entspannen und fährt ohne Zwischenfälle weiter. Wir haben also erneut «Fart». Das Wort kommt von Fortuna und bedeutet im Gossenjargon «Glück».
Der Fahrer war sehenden Auges ein tödliches Risiko eingegangen, als ob er eine Wette in russischem Roulette abgeschlossen hätte. Raser gibt es überall auf der Welt. Doch die Raserei, deren Zeugen wir wurden, hatte nichts mit der überhöhten Geschwindigkeit gemein. Sie war schlicht Wahnsinn. Nach Dutzenden vergleichbaren Fällen verdichtete sich der Verdacht, dass die Männer unter einem sich plötzlich aufbauenden inneren Druck zu handeln scheinen und selbst von ihrem eigenen Verhalten überrascht sind.
Wir haben versucht, uns einen Reim auf diesen unerklärlichen Verlust an Selbstkontrolle zu machen. Gogol half uns dabei nicht weiter, Putin schon eher. Auf der Don-Magistrale mussten wir miterleben, wie unser leidgeprüfter Nikolai, obwohl oder weil er bemüht war, korrekt zu fahren, Gefahr lief, ins Visier der Wegelagerer von Verkehrspolizisten zu geraten und ausgenommen zu werden. Sich an die Regeln zu halten, hatte ihm keinen Vorteil gebracht, weil am Ende doch Tribut entrichtet werden musste. Die Polizei hatte es sogar darauf angelegt, den Verkehr extra so zu gestalten, dass es zu mehr Regelverstössen kam, und hatte hier und da falsche Hindernisse aufgebaut.
Was tun?
Die russischen Fahrsitten werden nicht nur durch eine erfinderische Wegelagerei korrumpiert. Die Strasse ist ein Raum, in dem sich gesellschaftliche Ungleichheit brutal und unmittelbar zur Schau stellt. Der «Hochadel», also Neurussen und Banditen, liefert sich Statusschlachten und riskiert dabei schwere Unfälle. Je protziger das Auto, desto mehr Freiheiten nehmen sie sich heraus. Ein Mittelklassewagen darf den Lada an den Rand drängen und überholen, sollte aber nicht versuchen, einen BMW, Lexus oder ähnliche Luxusmarken von hinten zu bedrängen und sie zum Spurwechsel zu zwingen. Die Elite hat stets Vorfahrt. Wer die herrschende Standeshierarchie infrage stellt, lebt gefährlich. Er droht in die Enge getrieben und sogar zum Anhalten gezwungen zu werden. Nicht selten wird der Wagen demoliert und der Fahrer verprügelt. Vor ein paar Jahren zwang ein Banker mit seiner Gefolgschaft einen Ausländer, der ihm die Spur nicht freimachen wollte, zum Aussteigen und prügelte auf ihn ein. Doch diesmal hatte der Mann Pech, denn das Opfer seiner Selbstjustiz war, wie sich herausstellte, kein Geringerer als Putins niederländischer Schwiegersohn. Der Täter verschwand hinter Gittern, und seine Bank war futsch.
Inzwischen ist die neofeudale Hierarchie Teil der ungeschriebenen Staatsverfassung Russlands. Schwere Delikte hoher Beamter und ihrer Nächsten, etwa ein Unfall mit tödlichen Folgen, werden mit Nachsicht behandelt, während normal Sterbliche mit hohen Strafen rechnen müssen. Gelegentlich kommt es noch schlimmer. 2005 hatte der ältere Sohn des früheren Verteidigungsministers Sergei Iwanow eine alte Frau auf dem Zebrastreifen mitten in Moskau zu Tode gefahren. Nachdem deren Sohn eine Strafanzeige gegen den Täter erstattet hatte, fand er sich selber auf der Anklagebank wieder. Auf der postkommunistischen Kraftfahrstrasse hat die Französische Revolution noch nicht stattgefunden.
Die Einhaltung der Regeln rettet den russischen Verkehrsteilnehmer also weder vor der Willkür der Wegelagerer noch vor den von der Staatsmacht gedeckten Privilegien Dritter. Der Anreiz, die Ordnung einzuhalten, ist deshalb gering. Auch die Unterordnung unter das Recht des Stärkeren bringt keinen Vorteil, da im Verkehr ein jeder dieses Recht für sich in Anspruch nehmen kann. Das menschliche Gehirn kann offenbar diese entgegengesetzten, sich widersprechenden Signale schlicht nicht verarbeiten. Der Fahrer wird unberechenbar, zur rasende Bombe. Heil am Ziel angelangt, nimmt er einen neuen Fahrgast auf. Wir aber, seine Mitgefangenen, atmen tief durch. Wir haben «Fart» gehabt.
Sonja Margolina, 1951 in Moskau geboren, lebt als Publizistin und Buchautorin in Berlin. Zuletzt veröffentlichte sie die Romane «Brandgeruch» (Berlin-Verlag, 2011) und «Kaltzeit» (Amazon, 2013). 2004 kam «Wodka: Trinken und Macht in Russland» heraus.
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