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Montag, 12. Mai 2014

Die Botschaft, die der Westen mit seiner Politik in der Ukraine verbreitet, ist klar: Die Westukraine gehört zu „unserem“, die Ostukraine zum „russischen Europa“. Aber stimmt das auch?

Zukunft der UkraineEine simple Zweiteilung wäre nicht ausreichend

Die Botschaft, die der Westen mit seiner Politik in der Ukraine verbreitet, ist klar: Die Westukraine gehört zu „unserem“, die Ostukraine zum „russischen Europa“. Aber stimmt das auch?
© REUTERSVergrößernWie geht es nach dem Referendum weiter in der Ukraine?
ie Krise in der Ukraine hat auf allen Seiten die Geopolitik auf die Tagesordnung zurückgebracht – und damit auch die Rede von „Ost“ und „West“. Das geopolitische Denken kreist um Machtsphären und Wirtschaftsinteressen. Nicht nur Politiker in Moskau und Kiew denken so, auch führende Wissenschaftler im Westen. So fasste der Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler die Scheidelinien in der Ukraine kürzlich so zusammen: „Die Grenze, die durch die Ukraine verläuft, entspricht jener Grenze, die auch Europa teilt: der katholische Westen mit seinen historischen Verbindungen zum Habsburger Reich und Polen; der orthodoxe Osten mit den Banden zu Russland.“ Die Botschaft ist klar: Die Westukraine gehört mit Geschichte und Religion zu „unserem“ Europa, die Ostukraine zum anderen, dem „russischen“ Europa. Aber stimmt das auch?

Unterschied der Kulturen und Mentalitäten

Selbstverständlich erklären die historischen, politischen, nationalen und konfessionellen Einflüsse für die heutige Ukraine jenen gewissen Unterschied der Kulturen und Mentalitäten zwischen Ost und West. Seit 1989 ist es in westukrainischen Städten wie Lemberg (Lviv) üblich, sich im kulturellen Raum des alten habsburgischen Kronlands Galizien zu verorten. Einige vergilbte Franz-Joseph-Portraits hängen nun wieder in Lemberger Kaffeehäusern. Die Kaiserportraits erinnern an 150 Jahre Geschichte im alten Österreich-Ungarn, die nostalgisch als gelungene Zeit des Zusammenlebens idealisiert wird.
Doch die von der neuen Geopolitik geschaffenen Gegensätze zwischen den Imperien der Habsburger und der Romanovs, zwischen Katholizismus und Orthodoxie führen in die Irre. Sieht man genauer hin, sind die Ukraine und ihre Geschichte weder bi-national noch bi-konfessionell. Deshalb sind auch Zweifel angebracht, ob eine Aufteilung des Landes oder eine Abspaltung die Probleme lösen kann. Die Geschichte hält eine andere Lektion parat.
© AFPVergrößernEine Frau hält am Sonntag in Simferopol eine russische Flagge in die Höhe
Schon einmal sollte die Region föderalisiert werden, um ethnische und konfessionelle Konflikte zu entschärfen. Das war im Galizien der Habsburgermonarchie, dessen westlicher Landesteil mit Krakau heute zu Polen gehört, während der östliche Teil mit Lemberg Teil der Ukraine ist. Im Revolutionsjahr 1848 geriet in Wien binnen weniger Wochen und Monate der Absolutismus Metternichs ins Wanken. Galizien hatte gerade einen Bürgerkrieg zwischen Polen und Ruthenen, wie die späteren Ukrainer damals noch genannt wurden, hinter sich. Die Lage hatte sich zwar beruhigt. Doch landeten auf den Tischen der Gemeindepfarrer und Dorfvorsteher Fragebögen und Petitionsformulare. „Möchtet Ihr, dass Eure Kinder in russischsprachige Schulen gehen?“, mit solchen Fragen warb der Zentrale Nationalrat der Ruthenen in Lemberg um Unterschriften. Damit wollte er Druck machen auf den österreichischen Reichstag, der in der Kleinstadt Kremsier eine Verfassung ausarbeitete; die Ruthenen drangen auf eine föderale Teilung Galiziens. Hunderttausende Unterschriften kamen zusammen, es wurde die mit weitem Abstand größte Petition an den Reichstag, wenn nicht sogar in der Geschichte der Habsburgermonarchie überhaupt.

Simple territorial-föderale Landesteilung hilft nicht weiter

Damals wurde ähnlich wie heute argumentiert. Der ruthenische Lemberger Bischof Gregor Jachimowicz nannte als Grund der Föderalisierung „hauptsächlich die Eigenthümlichkeit des ruthenischen Volkes in Sprache, Schrift und literarischer Ausbildung, in der Differenz des Religions-Ritus, der Sitten und Gebräuche, in der Volksstimmung, der Anhänglichkeit an das geliebte Kaiserhaus und in dem besonderen Volksinteresse überhaupt“. Die Polen, gegen die Jachimowicz anschrieb, galten als viel weniger dynastietreu und als dominant in Sprache, Kultur sowie ihrer wirtschaftlichen und sozialen Stellung.
Vertieft man sich allerdings in die zahllosen Petitionsbögen aus Galizien, verlieren selbst die einfachsten Abgrenzungsmerkmale an Trennschärfe. So lässt sich gut zeigen, dass der Gebrauch des Kyrillischen, den die Ruthenen für sich reklamierten, in vielen Petitionen gar nicht auftauchte. Auch gebrauchten die Ruthenen gar nicht so selten die polnische Sprache, um Beruf und Konfession anzugeben. Vor allem aber wird anhand der Listen eines deutlich: Es lagen in Galizien nicht nur ruthenische, polnische und jüdische Gemeinden geografisch eng beieinander, die einzelnen Ortschaften und Dörfer selbst spiegelten ein buntes Muster der Ethnien und Konfessionen wider.
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Diese Vielfalt konnte man schwerlich mit einer simplen territorial-föderalen Landesteilung auflösen. Die Gegenpetition, die für Galizien die Beibehaltung der einheitlichen Kronlandstruktur forderte, ließ nicht lange auf sich warten. Von polnischen Politikern initiiert, mobilisierte auch sie Hunderttausende, darunter etliche Ruthenen. Neben Polen sprachen sich auch Juden gegen eine föderale Teilung aus. Sie fürchteten neuerliche Ausgrenzungen, nachdem sie 1848 gerade erst in ihre politischen Rechte eingesetzt worden waren.

Das Stichwort hieß Personalautonomie

Die Petitionen für eine föderale Teilung Galiziens hatten 1848 keinen Erfolg, die Einheit des Kronlands wurde beibehalten. Mit den Jahren erhielt Galizien allerdings in Österreich-Ungarn eine Sonderstellung und wurde mit einer ganzen Anzahl von Selbstverwaltungsrechten ausgestattet. Diese kamen vor allem der polnischen Bevölkerungsgruppe zugute.
Im Jahr 1914 erfolgte wieder ein Vorstoß, um auch den anderen Bevölkerungsgruppen die Chance begrenzter Autonomie einzuräumen. Doch ging es nun nicht mehr um die territoriale Zweiteilung des Landes. Das Stichwort hieß Personalautonomie: Die Wahl ins Landesparlament sollte nicht ausschließlich nach Parteien, sondern ebenso nach der Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe erfolgen. Wegen des aufkommenden Weltkriegs wurden diese Regelungen nicht mehr umgesetzt.
Aus der Geschichte Galiziens erhält man wichtige Hinweise für die Bewertung des heutigen ukrainischen Konflikts. Die Bezugnahme auf westliche und östliche Religionen gab es auch früher schon. Ein historischer Beleg für die Richtigkeit heutiger Trennlinien ist das aber gerade nicht. Denn die damals gezogenen Grenzen verliefen viel weiter westwärts, zwischen dem Katholizismus der Polen und der Katholisch-Unierten Kirche der Ruthenen, deren Liturgie sich stark an die Orthodoxie anlehnt. Überspitzt gesagt: Das damalige Ostgalizien ist die heutige Westukraine, die angeblich schon so lange zum Westen gehört.

Föderalisierung könnte eine Lösung sein

Den Ukrainern hilft ein geopolitisches Kräftemessen nicht weiter, das von außen Herrschaftssphären definiert und sich dabei auf historische und politische, sprachliche und konfessionelle Unterschiede beruft. Was aber kann die Ukraine vor dem Schicksal eines „failing state“ bewahren? Multinationale und multiethnische Staaten wie Kanada oder die Schweiz zeigen, dass Föderalisierung trotz gesellschaftlicher Vielfalt gelingen kann. Sie zeigen auch, dass eine simple föderale Zweiteilung der Ukraine in Ost und West nicht ausreichend wäre.
Föderalisierung ist allerdings nur dann eine Lösung, wenn sie auf dem Willen zum Zusammenleben, einem gerechten, rechtlich normierten Ausgleich zwischen den verschiedenen Gruppen und auf funktionierenden staatlichen Institutionen aufbauen kann. Nimmt man die Botschaften des Maidan ernst, dann geht es für die Zukunft der Ukraine zuallererst darum, dem Zusammenleben wieder einen funktionierenden institutionellen, möglichst rechtsstaatlichen und demokratischen Rahmen zu geben.

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