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Freitag, 23. Januar 2015

nstabiler Euro-Franken-Wechselkurs Lohndruck im Südkanton

Instabiler Euro-Franken-Wechselkurs

Lohndruck im Südkanton

Italienische Grenzgänger könnten den Tessiner Arbeitskräften systematisch vorgezogen werden.
Italienische Grenzgänger könnten den Tessiner Arbeitskräften systematisch vorgezogen werden. (Bild: Goran Basic / NZZ)
Arbeitspendler vom Tessin fernhalten: Dies sollte einer der ffekte des anstehenden neuen Grenzgängerabkommens mit Italien sein. Die Verteuerung des Frankens könnte aber das Gegenteil bewirken und sogar eine Art Lohn-Krieg auslösen.
In Sachen Doppelbesteuerung haben Bern und Rom endlich zu einer Einigunggefunden. Hierbei wurden auch die Eckpunkte für ein neues Grenzgängerabkommen skizziert. Diese riefen im Tessin Skepsis und Verärgerung hervor – wegen zu geringer steuerlicher Mehreinnahmen und einer mit der Einwanderungsinitiative zusammenhängenden Revisionsklausel Roms (NZZ 21. 1. 15). Momentan strömen täglich 63 000 Grenzgänger in den Südkanton, der ungefähr 185 000 Arbeitsplätze aufweist und angesichts der vielen «billigen» Tagespendler aus Italien einem spürbaren Lohndumping ausgesetzt ist. Eine der Wirkungen des anstehenden neuen Grenzgängerabkommens sollte sein, dass etliche «Frontalieri» durch höhere Quellensteuer-Belastung im Tessin und ordentliche Teilbesteuerung in Italien von einer Erwerbstätigkeit im Südkanton abgehalten werden.
Luca Albertoni, Direktor der Tessiner Handelskammer und Präsident der Schweizer Industrie- und Handelskammern, geht indes von einer eher geringen Wirkung aus. Gemäss seinen Worten können die Mehrkosten, welche die Grenzgänger aufgrund höherer Steuern den Tessiner Arbeitgebern verursachen, folgende Tatsachen nicht wirklich kompensieren: In Norditalien herrscht «Hunger» angesichts der grassierenden Arbeitslosigkeit, und die Lohnunterschiede zum Tessin bleiben riesig. Daher dürften sich die meisten Italiener, die Frontalieri sind oder es werden wollen, kaum abschrecken lassen.

Salär in Euro auszahlen

Vielmehr dürfte die bisherige Sogwirkung bestehen bleiben, zumindest kurz- bis mittelfristig. Dies aufgrund der massiven Verteuerung des Frankens, welche durch die Aufhebung der Kursuntergrenze zum Euro seitens der Schweizerischen Nationalbank ausgelöst wurde. Unverhofft sind die bisherigen gezielt auf Grenzgänger zugeschnittenen Tessiner Lohnangebote 10 bis 20 Prozent höher geworden. Also bleibe das Tessin weiterhin attraktiv, sagt Albertoni. Der Durchschnittslohn eines Frontaliere beläuft sich übrigens auf etwa 3500 Franken monatlich. Doch es gibt sogar Grenzgänger mit Hochschulabschluss, die sich mit 2500 Franken oder noch tieferem Salär begnügen. Grob über den Daumen gepeilt lässt sich zudem sagen, dass ein Tessiner 800 bis 1000 Franken weniger als ein Stadtzürcher verdient.
Albertoni befürchtet nicht unbedingt einen abrupten Anstieg der Grenzgängerzahl – sieht er doch Lohnsenkungen in verschiedenen Branchen als wahrscheinlich an. Bereits habe ein im Tessin ansässiger internationaler Bekleidungskonzern angekündigt, seine Angestellten in Euro auszuzahlen. Gemäss Albertoni könnten einige Firmen versuchen, systematisch Leute mit tiefen Lohnkosten den Tessiner Arbeitskräften vorzuziehen. Dieses Phänomen sei bis jetzt nicht besorgniserregend, müsse künftig aber scharf beobachtet werden.
Giorgio Fonio von der christlichen Gewerkschaft OCST stellt sich auf einen grösseren Lohndruck ein. Laut dem Radio und Fernsehen der italienischen Schweiz rechnet er damit, dass insbesondere Firmen mit einem hohen Anteil an Grenzgängern die Löhne senken könnten. Damit würde die im Tessin bestehende Dumping-Tendenz zusätzlich verstärkt. Fonios Befürchtungen gehen noch weiter: Es könnten nicht nur heimische Arbeitskräfte durch Frontalieri ersetzt werden, sondern auch bereits fest angestellte italienische Grenzgänger durch noch billigere Landsleute. – Stefano Modenini von der Tessiner Industrievereinigung bereitet der schwankende Wechselkurs zum Euro grosse Sorgen. Denn falls die EU-Währung längere Zeit unter die Schwelle von einem Franken und zehn Rappen sänke, müssten sich einige im Südkanton angesiedelte Firmen fragen, ob ihre Wettbewerbsfähigkeit in der Schweiz noch garantiert sei. Zumindest wären sie zu Entlassungen gezwungen, um darauf willige Frontalieri zu Tiefstlöhnen anzustellen – im besten Falle. Als behelfsmässige Alternative zu Entlassungen sieht die kantonale tripartite Kommission die Teilzeitarbeit: Diese Ultima Ratio habe sich bereits 2011 bewährt, also rate man auch jetzt dazu, so die Kommission.
Laut Spekulationen von Tessiner Medien könnten vom Wechselkurs zum Euro bedrohte Firmen eine weitere Tieflohn-Massnahme ergreifen. Diese steht im Zusammenhang mit den 14 Gesamtarbeitsverträgen in einzelnen Branchen, welche die Kantonsregierung in den letzten zwei Jahren dekretiert hat, um allzu massives Lohndumping zu verhindern. Die Unternehmen könnten sich zu einer Interessenvereinigung zusammenschliessen und Druck auf den Tessiner Staatsrat ausüben, damit er einige Gesamtarbeitsverträge zeitweilig aufhebt oder zumindest in einigen Punkten mehr Flexibilität zulässt. Dies birgt von linker Seite her viel Konfliktpotenzial in sich und könnte womöglich eine Art Lohn-Krieg vom Zaun brechen.

Grenzgängerlöhne helfen

Es gilt indes einen wichtigen Umstand zu berücksichtigen: Vor allem die im Tessin angesiedelten KMU haben punkto Wettbewerbsfähigkeit oft einen schweren Stand – deshalb stellen die tiefen Saläre der Frontalieri einen wesentlichen Faktor dar, um gegen die Konkurrenz bestehen zu können. Die Tessiner Lohnfrage zwingt alle Akteure zu einer steten Gratwanderung.

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