Das Märchen von der großen Ölpreisverschwörung
Saudi-Arabien und die USA drücken absichtlich den Ölpreis, um Russland zu schaden. Viele glauben das – oder anderen Theorien. Doch es gibt wahrscheinlichere Ursachen für die extremen Entwicklungen.
Von Holger Zschäpitz,Davos
Wenn die Welt unüberschaubar wird, gedeihen Verschwörungstheorien am besten. Sie liefern einfache Erklärungen für komplexe Zusammenhänge. Der rasante Verfall des Ölpreises gehört zweifelsohne in diese Kategorie.
Ein Absturz um mehr als 50 Prozent innerhalb eines halben Jahres ließ schnell den Verdacht aufkommen, dass dies nichts mit den einfachen Marktgesetzen von Angebot und Nachfrage zu tun habe. Zumal die zahlreichen Krisen auf dem Globus vom IS bis zum Krieg in der Ukraine eher für steigende Preise sprechen würde.
Daniel Yergin hat selbst auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos alle Hände voll zu tun, solche Vermutungen zu entkräften und die Elite über die wahren Gründe des Ölpreisverfalls aufzuklären. "Ich liebe Verschwörungstheorien. Diese Leute sind sehr kreativ, sie leben in ihrem eigenen Universum. Aber: Es gibt keinen Masterplan hinter den fallenden Ölpreisen", sagt der Energieexperte der Consultingfirma IHS im Gespräch mit der "Welt".
Die Opec steuert nicht mehr den Ölpreis
Natürlich seien niedrige Ölpreise schlecht für Russland. Aber die Idee, dass Saudi-Arabien und die USA gemeinsame Sache machten, um Moskau in die Knie zu zwingen, sei völlig unrealistisch.
"Das glauben zwar viele Leute in Russland, aber Saudi-Arabien handelt nur im eigenen Interesse", so Yergin. "Ich war kürzlich in China, da haben mich unzählige Leute auf diese Theorie angesprochen. Aber sie ist schlicht nicht wahr. Auch die US-Regierung ist von dem fallenden Ölpreis überrascht worden."
Yergin gehört zu den weltweit führenden Energieexperten. Als Vizepräsident der Consultingfirma IHS berät er unter anderem die US-Regierung, ist im Vorstand des US-Energieverbandes und des Amerikanisch-Russischen Wirtschaftsverbandes. Kaum ein anderer hat einen so intimen Einblick in die Verflechtungen zwischen Politik und Energiemärkte.
Und er macht historische Umwälzungen für die jüngsten dramatischen Entwicklungen verantwortlich. "Die USA haben seit 2008 ihre Förderung um 80 Prozent ausgeweitet und sind jetzt vielleicht schon der größte Ölproduzent der Welt. Und Saudi-Arabien und die Opec haben sich aus der aktiven Steuerung des Ölpreises zurückgezogen und den Märkten das Feld überlassen", sagt Yergin.
Fracking in den USA treibt Ölpreis in den Keller
Der Ölpreis ist seit Sommer 2014 im freien Fall. Das freut die Verbraucher: Die Einführung der Ölfördermethode "Fracking" in den USA macht es möglich. Das Benzin dürfte demnach billiger werden.Quelle: N24
Vor allem Amerika kommt eine zentrale Stellung zu. Dank der dramatischen Ausweitung ihrer Produktion von Schiefer-Öl werden sie zum dominierenden Spieler am Energiemarkt.
Schiefer-Öl überschwemmt den Markt
Noch 2010 betrug der Ausstoß an Öl, das nicht klassisch gepumpt, sondern mit Hochdrucktechnik aus tief liegenden Gesteinsschichten gewonnen wird, in den USA lediglich eine Million Fass am Tag. Heute beläuft sich der Ausstoß an Schiefer-Öl auf mehr als vier Millionen. Das entspricht dem Auftauchen eines neuen Ölproduzenten in der Größe von Irak und Katar zusammengenommen.
In der vergangenen 80 Jahren hat es lediglich dreimal eine derart starke Ausweitung der Ölproduktion gegeben wie jetzt. Das war 1931 der Fall, als im Osten von Texas Öl gefunden wurde. 1950 weitete der Nahe Osten seine Förderung extrem aus. Und 1986 wiederum flutete das Öl aus der Nordsee die Märkte.
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Jedes Mal kollabierte der Ölpreis, und jedes Mal folgte einige Zeit später eine Diskussion über die Endlichkeit der neuen Quellen. Das wiederum trieb den Preis nach oben. Diese Diskussion erwartet Yergin auch jetzt.
Fracking lohnt sich schon bei einem Ölpreis von 60 Dollar
Zwar glaubt er nicht, dass der niedrige Ölpreis die Fracking-Industrie in den Ruin treibt. Aber das Wachstum werde sich deutlich verlangsamen, die Produzenten konzentrierten sich in Zukunft auf die produktivsten Regionen und darauf, Kosten zu sparen.
Und er räumt mit einem Mythos auf. Bislang seien alle davon ausgegangen, dass die Fracking-Industrie nur bei Preisen zwischen 70 und 80 Dollar profitabel arbeiten kann.
"Unsere jüngsten Forschungen haben ergeben, dass rund die Hälfte der Produzenten auch unter 60 Dollar Gewinne macht. Einige können sogar zu Förderkosten von 30 Dollar produzieren", sagt Yergin.
Fördert ein niedriger Ölpreis den Terrorismus?
Auch wenn die Ölpreise wieder steigen könnten, sind für ihn Notierungen von mehr als 100 Dollar Geschichte. "Man sollte sich zwar nie festlegen, aber die Ölproduzenten haben selbst erkannt, dass das für sie selbst schädlich ist. Bei diesem Niveau ist der Anreiz bei den Abnehmerländern viel zu groß, nach Alternativen zu suchen."
Aber Yergin weiß nur zu gut, dass Öl mehr ist als nur ein Energieträger. Öl ist auch ein Machtinstrument für die Staaten und bestimmt die Hackordnung auf dem Planeten.
Folgen des Ölpreisverfalls
- Länder
- Unternehmen
- Importeure
- Verbraucher
"Der niedrige Ölpreis hat auf jeden Fall geopolitische Konsequenzen – die Ölmächte sind quasi abgewertet worden", so Yergin. Profiteure des niedrigen Ölpreises sind die Abnehmerländer, vor allem Japan, China und Europa. Aber auch die sollten sich nicht zu früh freuen.
"Nicht nur Russland – viele Länder hängen von ihren Einnahmen aus dem Ölgeschäft ab, was den Haushalt angeht. Die jetzige Situation führt zu einer Destabilisierung, bis hin zu Unruhen auf der Straße", sagt Yergin.
Vor allem im Irak oder in Nigeria könnten die Regierungen ins Wanken geraten und ein gefährliches Machtvakuum entstehen. Ein niedriger Ölpreis kann nach Ansicht von Yergin also sogar den weltweiten Terrorismus begünstigen. Und damit bereitet Yergin indirekt den Nährboden für neue Verschwörungstheorien.
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