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Dienstag, 25. November 2014

Russland zahlt einen Preis für die Ukraine-Krise. Wirtschaftsminister Alexei Uljukajew nimmt Stellung zu Sanktionen, Erdöl, dem Rubel und warum es sich lohnt, Präsident Wladimir Putin Ratschläge zu geben.

Russlands Wirtschaftsminister im Gespräch

«Jetzt rollt die Lawine»

Russlands Wirtschaftsminister Alexei Uljukajew sucht nach Auswegen aus der Krise.
Russlands Wirtschaftsminister Alexei Uljukajew sucht nach Auswegen aus der Krise. (Bild: Andrey Rudakov / Bloomberg)
Russland zahlt einen Preis für die Ukraine-Krise. Wirtschaftsminister Alexei Uljukajew nimmt Stellung zu Sanktionen, Erdöl, dem Rubel und warum es sich lohnt, Präsident Wladimir Putin Ratschläge zu geben.
Die russische Führung lobt beständig die Partnerschaft mit China. Sie jedoch reisen an diesem Dienstag nach Europa, um dort Investoren zu treffen. Sind Sie da nicht am falschen Ort?
Ich habe die Idee, dass wir Europa zugunsten Chinas verlassen sollten, nie unterstützt. Es geht um die Überwindung eines Ungleichgewichts. Unser Handelsvolumen mit der EU beträgt 430 Mrd. $, das mit China nur 90 Mrd. $. Wir werden unser Geschäft mit China ausweiten, aber das mit Europa nicht einschränken.
Die EU hat Sanktionen gegen Russland verhängt. Hinzu kommt die offizielle Rhetorik, dass die EU hinter dem Machtwechsel in der Ukraine stünde und einen «faschistischen Putsch» gefördert habe. Wirkt sich das auf Ihre Arbeit mit den westlichen Partnern aus?
Natürlich sind wir nicht frei von der politischen Umgebung und den Problemen. Wir spüren die Sanktionen. Zunächst, was den Zugang zum weltweiten Kapitalmarkt angeht. Und, was die Zahlungsbilanz angeht, den Abfluss von Kapital, den Wechselkurs, die Inflation. Aber wir versuchen unseren Partnern zu erklären, dass die Sanktionen negative Auswirkungen auf alle haben. Auch in der EU leiden Teile der Wirtschaft. Die politischen und wirtschaftlichen Führer müssen einen Weg aus dieser Situation finden.
Die Schweiz beteiligt sich nicht an Sanktionen, hat aber Massnahmen getroffen, um deren Umgehung zu verhindern. Wie sehen Sie die Rolle der Schweiz?
Ich bin mir sicher, unsere europäischen Partner verstehen, dass die Einschränkungen beiden Seiten schaden. Sie widersprechen dem Völkerrecht, den Grundsätzen der Welthandelsorganisation und der G-20. Die Restriktionen verschlechtern sowohl den multilateralen wie auch den bilateralen Dialog, die für Stabilität und Sicherheit in der Welt von grosser Bedeutung sind.
Das sogenannte Rotenberg-Gesetz zur Konfiszierung von Vermögenswerten ausländischer Unternehmen wurde einstweilen gestoppt. Aber die Ängste bestehen fort. Wie gehen Sie damit um?
Ich habe öffentlich gesagt, dass dieser Gesetzentwurf kontraproduktiv ist. Er widerspricht unserer Botschaft an Investoren. Wenn sich ein russischer Geldgeber entscheidet, in einem anderen Land zu investieren, ist das ein Zeichen, dass er dem Rechtssystem des Landes vertraut. Probleme dort sind seine Sache. Wir können ihm dort keinen Schutz bieten. Auf der anderen Seite läuft die Möglichkeit, einen russischen Investor mit den Vermögenswerten ausländischer Unternehmen in Russland zu entschädigen, völlig der Idee zuwider, ausländisches Kapital nach Russland zu locken. Zum Glück hat uns das Oberste Gericht in dieser Sichtweise unterstützt, und der Gesetzentwurf wurde nach der ersten Lesung im Parlament gestoppt. Ich hoffe, er hat keine Zukunft.
Man hat den Eindruck, Moskau wolle die Verbindungen mit dem Westen kappen und sich auf sich selbst verlassen.
Wir brauchen Investitionen, sowohl heimische als auch ausländische. Unser Problem liegt im Bruch zwischen der Sparquote und der Investitionsquote. Die Sparquote liegt bei 30% des Bruttoinlandprodukts. Die Investitionsquote beträgt nur 20% – für ein hohes Wachstum braucht man 25% oder 26%. Diese Lücke zeigt, wie heimische Investoren das hiesige Klima einschätzen. Sie fühlen sich nicht geschützt vor Risiken. In den vergangenen zehn Jahren wurde der Mangel an heimischen Investitionen durch ausländische Investoren ersetzt. Deren Engagement bedeutet nicht nur den Transfer von Geld, sondern auch von Technologie, Wissen, Management, Unternehmenskultur und so weiter. Das brauchen wir weiterhin, und wir sind weiter im Dialog mit Investoren.
Ihr Ministerium schätzt, dass dieses Jahr unter dem Strich 120 Mrd. $ aus Russland abfliessen werden.
Der Kapitalabfluss bedeutet nicht, dass die ausländischen Geldgeber aufhören, in Russland zu investieren. Voriges Jahr war der Kapitalabfluss geringer als dieses Jahr, rund 70 Mrd. $. Aber wir hatten einen grossen Zustrom ausländischer Investitionen. Die heimischen Investoren bevorzugen es, Gewinne aus dem Export im Ausland zu lassen. Aber Ausländer investieren. In diesem Jahr ist die Situation natürlich viel schlechter, vor allem wegen der Sanktionen.
Der Rubel hat dieses Jahr deutlich an Wert verloren, etwa 40% zum Dollar. Was besorgt Sie daran am meisten?
Unser Staatsbudget ist geschützt, denn der fallende Wechselkurs gleicht den fallenden Ölpreis aus. So bleiben die Einnahmen in Rubel erhalten. Dieses Jahr rechnen wir mit einem Haushaltsüberschuss von 1% des Bruttoinlandprodukts. Aber wir machen uns Sorgen um die privaten Haushalte und die private Nachfrage. Der fallende Rubel führt zu Inflation, wir rechnen mit rund 9% bis Ende des Jahres.
Die Zentralbank hat jüngst den Rubel ganz den Marktkräften überlassen. War das richtig, mitten in der Krise?
Ich glaube, es hätte früher passieren sollen. Aber besser spät als nie. Es gab zwei Wellen, in denen der Rubel schwächer geworden ist. Die erste war im März, die zweite im September und Oktober. Beide Male hat die Zentralbank ungefähr dieselbe Menge Geld ausgegeben – im März 26 Mrd. $, im Oktober 30 Mrd. $. Im März haben wir den Abwärtstrend gestoppt. Im Oktober haben wir gar nichts erreicht. Das lag an der Kombination aus dem Kapitalabfluss und dem dramatischen Zerfall des Ölpreises. Man kann den Rubel nicht mehr schützen, also war es die richtige Entscheidung, ihn freizulassen. Die Zentralbank sagt allerdings, sie interveniere, wenn es für die finanzielle Stabilität nötig ist. Aber sie kündigt nicht an, wann sie das tut. Daher wissen die Marktteilnehmer nicht, welche Strategie sie wählen können, um zu gewinnen. Im Moment funktioniert das.
Für vieles in der Welt werden in Russland die USA verantwortlich gemacht. Manche Politiker werfen Washington sogar eine Verschwörung zur Senkung des Erdölpreises vor. Was denken Sie?
Ich glaube nicht an solche Verschwörungstheorien. Man kann so viele Marktteilnehmer nicht beeinflussen. Auf die Preisbildung nehmen Angebot und Nachfrage Einfluss, viele Konsumenten und Produzenten. Das ist unmöglich zu steuern. Mein Gefühl ist, das alte Gleichgewicht gehört der Vergangenheit an. Dieses Gleichgewicht lag bei 100 $ je Fass oder mehr. Der Markt sucht ein neues Gleichgewicht. Ich denke, es wird in zwölf Monaten gefunden sein und näher bei 90 $ liegen.
Hört Präsident Putin noch auf ökonomische Ratschläge und Erklärungen?
Putin ist in wirtschaftlichen Fragen Realist und kennt sich gut aus. Während seiner vier Jahre als Ministerpräsident war er oft mit alltäglichen Wirtschaftsfragen beschäftigt. Ich denke, er versteht die gegenwärtige Situation sehr gut. Er hört ökonomischem Rat zu, auch von mir.
Dennoch scheint die Politik für die Wirtschaft nicht sehr förderlich zu sein.
Ich denke nicht, dass wir eine politische Wahl hatten. Es ist nicht einfach so, dass eine Wirtschaftspolitik bestimmt worden wäre, deren Ergebnisse wir jetzt sehen. Wir haben auf dramatische Ereignisse im Ausland reagiert, etwa den Staatsstreich in der Ukraine. Jetzt rollt die Lawine, und man kann sie nur schwierig anhalten. Man kann nur versuchen, sich irgendwie zu schützen.
Präsident Putin sagte jüngst, Russland werde 2015 ein Wirtschaftswachstum von 1,2% erleben. Die Zentralbank erwartet eine Stagnation. Wer hat recht?
Unsere Prognose für 2015 werden wir womöglich korrigieren müssen, aber es wird immer noch ein positives Wachstum geben. Dieses Jahr werden es, denke ich, 0,7% oder 0,8% sein.
Viele Firmen bitten jetzt um Staatshilfe, darunter der Erdölkonzern Rosneft und die Bank VTB. Die Annexion der Krim soll aus dem Nationalen Wohlfahrtsfonds (NWF) finanziert werden. Hat der Staat genug Geld dafür?
Ich denke nicht, dass Konzerne wie Rosneft Hilfe vom Staat benötigen. Sie sind in einer guten finanziellen Lage. Der Punkt ist: Die Unternehmen haben Projekte, und darüber diskutieren sie nun mit der Regierung. Wenn uns Rosneft ein Projekt anbietet, das profitabel ist, werden wir darin investieren – zusammen mit anderen Anlegern, denn der NWF kann nicht mehr als 40% des Kapitals solcher Projekte beisteuern. Es ist auch nicht so, dass einer Bank geholfen werden müsste. Aber wir möchten die Investitionen in der Gesamtwirtschaft beleben. Wenn wir möchten, dass die Banken mehr Kredite vergeben, müssen wir ihr Kapital stärken.
Rosneft und VTB werden vom Staat kontrolliert. Liegt noch ein Privatisierungsplan auf dem Tisch? Oder wird die erste «Privatisierung» der Verkauf des verstaatlichen Mehrheitsanteils am Erdölkonzern Bashneft an Rosneft sein?
Wenn ein Staatsunternehmen an ein anderes verkauft wird, ist es keine Privatisierung. Der russische Erdölsektor ist sehr wettbewerbsfähig. Es gibt keinen Grund, warum die Regierung dort Anteile halten sollte. Deshalb werden wir Rosneft privatisieren. Auch Bashneft sollte nicht in den Händen der Regierung bleiben, wir werden das Unternehmen in unseren Privatisierungsplan aufnehmen. Das alles hängt natürlich von den Marktumständen ab. 69,5% von Rosneft gehören der Regierung, davon stehen 19,5 Prozentpunkte im Privatisierungsplan. Technisch gesehen könnten wir den Anteil heute verkaufen. Aber Sie sehen, was am Markt los ist. Wir können jetzt keinen fairen Preis erzielen. Deshalb verschieben wir es.
Was sagen Sie einem Investor, der befürchtet, Bashneft sei ein neues Yukos?
Das ist ein Problem. Als Investor muss man natürlich Risiken tragen. Aber mit dieser Geschichte haben wir das gefühlte Risiko der Investoren erhöht. Jetzt müssen wir das irgendwie ausgleichen. Wir müssen das generelle Umfeld für Investoren freundlicher gestalten, in verschiedener Hinsicht. Aber wir müssen auch schauen, ob wir nicht Garantien geben können, dass es nicht zu einer Welle solcher Vorfälle kommt.

Viele Baustellen für Uljukajew

Die russische Wirtschaft ist in einer schwierigen Lage. Schon seit 2012 verliert sie wegen struktureller Wachstumshemmnisse beständig an Schwung, und in diesem Jahr setzen ihr die Folgen der Ukraine-Krise ebenso so zu wie die Finanzmärkte. Aus dem Finanzministerium hiess es am Montag, die Sanktionen des Westens kosteten Russland rund 40 Mrd. $ pro Jahr; der Rückgang des Erdölpreises um 30% schlage mit 90 Mrd. bis 100 Mrd. $ zu Buche. Auch das Wirtschaftsministerium muss mit solchen Kalkulationen arbeiten. Seit Juni 2013 wird es von Alexei Uljukajew geleitet . Uljukajew war ehemals stellvertretender Finanzminister und seit 2004 Vizepräsident der Zentralbank. Dabei hat er die schrittweise Liberalisierung des Rubels begleitet, die unter seiner Nachfolgerin Anfang November in die Freigabe der Währung und den Verzicht auf regelmässige Interventionen mündete.

Furcht vor Enteignung

Der 58-jährige Uljukajew hat sich den Ruf eines unabhängigen Kopfes erarbeitet. Nun muss er Wirtschaftspolitik in einem Russland machen, in dem oft nur ein Mann entscheidet – Präsident Wladimir Putin. Und er muss diese Politik für ein Land machen, das zunehmend isoliert ist: Washington und Brüssel haben seit der völkerrechtswidrigen Annektierung der Krim im Frühjahr Strafmassnahmen verhängt und wegen des Konflikts in der Ostukraine verschärft. Der westliche Kapitalmarkt ist für die grossen staatlich kontrollierten Banken de facto geschlossen.
Ausländische Investoren, die in Russland tätig sind, blicken derweil sorgenvoll auf das sogenannte Rotenberg-Gesetz. Bereits im Frühjahr sorgten Wortmeldungen aus der Politik für Aufsehen, die als Antwort auf die Sanktionen eine Konfiszierung ausländischen Eigentums forderten. Anfang Oktober billigte die Staatsduma mit 233 bei 226 erforderlichen Stimmen in erster Lesung ein Gesetz, das von Sanktionen Betroffenen ermöglichen soll, vor einem russischen Gericht auf Entschädigung zu klagen. Zur Finanzierung der Entschädigung soll ausländisches Eigentum in Russland beschlagnahmt werden können, sei es privat oder staatlich.
Angenommen ist das Gesetz erst, wenn es zwei weitere Lesungen passiert. Ob und wann diese stattfinden, ist unbekannt. Das Vorhaben scheint in der Versenkung verschwunden; es hatte unter anderem scharfe Kritik vom Obersten Gericht provoziert. Selbst der Boulevard befürchtete, Magnaten wie die Gebrüder Rotenberg (die als «Freunde Putins» auf der Sanktionsliste stehen) wollten sich auf Staatskosten bereichern. Das Vertrauen ausländischer Unternehmer stärken solche parlamentarischen Fingerübungen trotzdem nicht.

Erinnerung an Yukos

Dasselbe gilt für die Wiederverstaatlichung von Bashneft, dem sechstgrössten Erdölförderer des Landes. In einem konstruiert wirkenden Gerichtsverfahren wurde der Mehrheitseigentümerin AFK Sistema, einem Unternehmen des Magnaten Wladimir Jewtuschenkow, Ende Oktober die Aktienmehrheit an Bashneft aberkannt . Die Privatisierung von Bashneft vor mehr als einer Dekade sei unrechtmässig verlaufen. Jewtuschenkow selbst steht unter Hausarrest , ihm wird Geldwäscherei vorgeworfen. Als möglicher Drahtzieher gilt der staatliche Erdölriese Rosneft unter Igor Setschin – jenem Putin-Vertrauten, der schon an der Zerschlagung des Erdölkonzerns Yukos beteiligt war.
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