Parlamentswahl in LettlandDas Gespenst des russischen Reiches
An diesem Samstag wählen die Letten ein neues Parlament. Viele von ihnen fragen sich, ob ihrem Land ein ähnliches Schicksal drohen könnte wie der Ukraine. Die Radikalen in der russophonen Minderheit erhielten zuletzt starken Zuspruch.
01.10.2014, von KONRAD SCHULLER, RIGA
© GETTY„Tag des Sieges“: Mitglieder der russischen Minderheit mit der Flagge der „Republik Donezk“ am 9. Mai in Riga
Zu den Gesichtern des freien Lettland gehört das von Sarmite Elerte. Der Bubikopf von den Fotos ihrer jungen Jahre, kurz, frech, radikal, lässt vermuten, dass diese Frau, die zu Sowjetzeiten zuerst Filmkritikerin war, dann Aktivistin der lettischen „Volksfront“ und nach der Wende eine der führenden Journalistinnen Rigas, immer schon die Ikonen des Westens kannte, die Kurzhaarfrisur der Schauspielerin Jean Seberg in Godards Film „Außer Atem“ etwa und deren rebellischen Sinn. Mittlerweile ist die Unabhängigkeit Lettlands, die Elerte mit erstritten hat, 24 Jahre alt. Sie selbst ist 57. Ihr Haarschnitt ist frech wie je, aber ihr Blick ist plötzlich todernst.
Nicht dass es keinen Grund gäbe zur Zuversicht. Riga mit seinen Hallenkirchen im Stil der deutschen Backsteingotik, mit seinen futuristischen Zeppelinhallen aus der lettischen Zwischenkriegszeit und dem turmhohen Kulturpalast im Stile des Sozialistischen Klassizismus, hat die Turbulenzen der Wirtschaftskrise bestanden. Unter Ministerpräsident Valdis Dombrovskis und seiner Nachfolgerin Laimdota Straujuma, einer bodenständigen, aller Extravaganz abholden Frau, hat das Land den 2008 desaströs eingebrochenen Haushalt konsolidiert und Anfang 2014 ohne Turbulenzen den Euro eingeführt. An diesem Samstag wird das Parlament neu gewählt, und wenig deutet darauf hin, dass die jetzige, auf Solidität gerichtete Koalition verlieren könnte. Elerte kandidiert bei dieser Wahl für die liberal-konservative Partei „Einheit“ (Vienotiba), die prägende Kraft in der gegenwärtigen Regierung.
So ein Triumph wäre das Ende der Nato und der EU
Dass sie so todernst blickt, hat Gründe, die 1.700 Kilometer südöstlich von ihrem kleinen Land liegen: auf der von Russland annektierten ukrainischen Halbinsel Krim und im Donbass, wo separatistische Kämpfer im Frühjahr ein prorussisches Schattenregime errichtet haben. Man spricht viel davon in den Altstadtkneipen Rigas und in den Cafés der Jugendstilviertel. „Hast du schon die Koffer gepackt?“ – „Wann nehmt ihr das Flugzeug nach Westen?“ Noch ist das als Scherz gemeint, aber alle hier haben solche Späße schon gehört, und Elerte natürlich auch.
Wie die Ukraine ist Lettland (und übrigens auch das benachbarte Estland) Heimat einer großen russophonen Minderheit. 38 Prozent seiner Bewohner gehören nicht zur lettischen Titularnation, die meisten von ihnen sprechen Russisch. Da Lettland außerdem lange eine Republik der Sowjetunion war, liegt in Riga dieser Tage die Frage in der Luft: Wer wird der Nächste sein? Und die Antwort ist stets: vielleicht wir.
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Elerte buchstabiert das Kalkül der Bedrohung: „Wir haben unsere Erinnerungen“, sagt sie, „und wir haben die Erinnerungen unserer Eltern.“ Gemeint ist die Annexion der baltischen Staaten durch die Sowjetunion 1940, Deportationen, Terror, Kolonisation durch forcierte Einwanderung aus allen Teilen des Reichs. Jetzt aber, wo Moskau wieder nach seinen verlorenen Provinzen greife, werde jedem, der Augen habe, klar: Wer heute in der Ukraine einmarschiert, kann morgen auch hier vor der Tür stehen. „Das Donbass beweist, wie leicht es ist, einen prorussischen Aufstand zu inszenieren“, sagt Elerte. Der russische Präsident Wladimir Putin wisse eines ja genau: Wenn er das Baltikum so destabilisieren könnte wie die Ukraine, und wenn der Westen hier so wenig unternähme wie dort, dann gewönne er damit mehr als nur ein paar alte Gouvernements. So ein Triumph, sagt Elerte, „wäre das Ende der Nato und der EU“. Keiner, so Elerte, würde dann auf die Schutzbündnisse des Westens noch einen Pfifferling geben.
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