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Donnerstag, 25. September 2014

Michail Chodorkowskij stellt in Berlin sein neues Buch vor. Doch alle wollen mit ihm nur über seinen politischen Gegner sprechen - und bekommen als Antwort ein undurchdringliches Lächeln.

Kremlkritiker ChodorkowskijGut vorbereitet für die Zeit nach Putin

Verstörende Porträts von Mithäftlingen: Michail Chodorkowskij stellt in Berlin sein neues Buch vor. Doch alle wollen mit ihm nur über seinen politischen Gegner sprechen - und bekommen als Antwort ein undurchdringliches Lächeln.

© IMAGOVergrößernLässt die Vergangenheit nicht ruhen: Michail Chodorkowskij in Berlin
Man merkt gar nicht, dass er den Raum betreten hat, bis er sich am oberen Ende des langen Tisches niederlässt; ein leiser Mann, dessen blaues Hemd unter grauen Nadelstreifen das Licht zu verschlucken scheint. Michail Chodorkowskij ist nach Berlin gekommen, um über sein neues Buch zu sprechen und über die Bewegung, die er am vergangenen Wochenende offiziell ins Leben gerufen hat: „Open Russia“, das man sowohl mit „offenes Russland“ als auch mit „Öffnet Russland!“ übersetzen kann. Es ist eine Bewegung, die es schon einmal gab und die der frühere Yukos-Oligarch Chodorkowskij so lange finanzierte, bis die russischen Regierungsbehörden 2006 die Konten der Organisation einfroren. Da saß er schon drei Jahre lang im Gefängnis.
Chodorkowskij lebt nun in der Schweiz. Zurück nach Russland will er derzeit nicht, er befürchtet, dass man ihm die Wiederausreise verweigert. Seine Auftritte in der westeuropäischen Öffentlichkeit sind sparsam dosiert - eine Lesung fürs Berliner Publikum im Juni, zwei große Interviews, und nun hat sein deutscher Verlag Galiani einige Journalisten zum Gespräch in die Literaturwerkstatt Berlin eingeladen.
Das schon im August in Russland erschienene Buch heißt „Meine Mitgefangenen“, in kurzen, verstörenden Porträts erzählt er von den Schicksalen seiner Mithäftlinge. Von Nikolaj etwa, der wegen Drogendelikten einsitzt und der sich den Bauch aufschlitzte, als die Behörden ihm eine Verbesserung seiner Haftbedingungen anboten - freilich nur unter der Bedingung, dass er sich bereiterkläre, auch noch einen Raubüberfall auf eine alte Dame zu gestehen, den er nie begangen hat. Chodorkowskij erzählt von einem Land, in dem jeder zehnte, vielleicht sogar jeder siebte Mann einmal Bekanntschaft mit dem Gefängnis macht.

Postsowjetischer Raubtierkapitalismus

Dann spricht er über „Open Russia“, das ein Netzwerk für oppositionelle Kräfte sei, in dem neue Strategien des politischen Handelns erprobt werden sollen. Er habe keine „vertikale“ Partei gründen, sondern eine „horizontale“ Verbindung politischer Akteure jeglicher Couleur ermöglichen wollen. „Open Russia“ werde jeden unterstützen, der sich gegen die Willkür und Korruption wende, die in Russland wuchere wie ein Krebsgeschwür. Etwa zehn Mitarbeiter hat die Stiftung, die von Prag aus agiert. Die russischsprachige Internetseite openrussia.org soll ein Forum des Austauschs sein und etwa in live übertragenen „open talks“ politische Bildungsarbeit leisten.
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Chodorkowskij zeigt sich auch bei diesem Auftritt als widersprüchliche Figur. Nicht nur, weil er während des postsowjetischen Raubtierkapitalismus der neunziger Jahre ein exponierter Akteur war, sondern auch, weil er offenlässt, wie seine Zukunftspläne genau aussehen. Gegenüber der Zeitung „Le Monde“ sagte er, dass er kein Interesse daran habe, russischer Präsident zu werden - wenn sich die Lage im Land normal entwickele. Dass sie das nicht tut, könnte offensichtlicher nicht sein.
Chodorkowskij trägt eine randlose Brille mit kräftigen Gläsern, er schaut oft hinunter auf den Tisch und sein Notizbuch. Jedes Mal, wenn sein Dolmetscher ihm eine neue Frage übersetzt hat, lächelt er. Natürlich zielen diese Fragen weniger auf seine Stiftung oder das neue Buch als auf die aktuelle politische Lage: „Warum tut Putin das?“, wird er gleich zu Anfang gefragt. Und er sagt, Putin glaube wohl, nur sich selbst gegenüber Rechenschaft ablegen zu müssen. Er habe wohl ein Mittel finden müssen, um im fünfzehnten Jahr seiner Macht den sinkenden Popularitätswerten entgegenzuwirken.

Die unbesorgte Staatsmacht

Chodorkowskij scheint sich als Ein-Mann-Unternehmen im Dienste seines Landes zu verstehen. Die Liebe zu Russland bringt er auf eine Art und Weise zum Ausdruck, die in Westeuropa undenkbar wäre. Gleich zweimal sagte er im „Spiegel“-Interview, dass er für Russland zu sterben bereit sei. Er hasse Putin nicht, sondern betrachte ihn als politischen Gegner.
Was manche denken lässt, er plane, irgendwann einmal, wie ein Wiedergänger Lenins aus der Schweiz nach Russland zurückzukehren, um einen Volksaufstand zu verhindern.Wie er das Gesellschaftliche vom Politischen zu trennen gedenke, wird er gefragt. Er antwortet, man habe sich nicht die Aufgabe gestellt, die Macht in den Händen zu halten, sondern wolle Antworten formulieren, die irgendwann einmal relevant werden könnten.
Chodorkowskij will bereit sein, wenn Putin fällt. Der wirtschaftlichen und politischen Krise dürfe keine administrative folgen, sagt er. Zum Schluss kommt dann doch noch eine Frage zu seinem Buch: Wie waren die Reaktionen in Russland? Nun, sagt Chodorkowskij, die Besorgnis der russischen Staatsmacht halte sich in Grenzen, denn die Größe der Leserschaft gebe dazu keinen Anlass. Er sagt es und lächelt undurchdringlich.

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