Kritik an Rogoff-StudieWie schädlich sind Staatsschulden?
17.04.2013 · Schulden über 90 Prozent vernichten das Wachstum - das ist das Ergebnis einer berühmten Studie. Drei Ökonomen zweifeln daran.
Von PHILIP PLICKERT
Eines der einflussreichsten ökonomischen Forschungspapiere der vergangenen Jahre, die Studie von Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff über hohen Staatsschulden und Wachstumsaussichten, ist von Fachkollegen schwer angegriffen worden. Drei Kritiker werfen den Star-Ökonomen einen fehlerhaften Umgang mit Daten vor, der zu falschen Ergebnissen geführt habe. Der Angriff hat in Ökonomenkreisen hohe Wellen geschlagen.
Die Studie „Growth in Time of Debt“ des früheren IWF-Chefvolkswirts Rogoff und seiner Kollegin Reinhart, die beide in Harvard lehren, steht nun abermals im Zentrum der Debatte. Sie untersuchten darin 20 Industrieländer seit dem Zweiten Weltkrieg und teilten sie in mehrere Verschuldungsgruppen ein. Dabei stellten sie fest, dass in Ländern und Phasen mit hoher Verschuldung von mehr als 90 Prozent des Bruttoinlandsprodukts das mittlere Wachstum um gut einen Prozentpunkt niedriger lag.
Das Papier von Reinhart und Rogoff war für strikten Sparkurs
Die Schuldenwarnung hat seit der Veröffentlichung der Studie die politische Debatte auf der ganzen Welt stark geprägt. Der Internationale Währungsfonds sowie andere Institutionen berufen sich auf die Studie. Auch die oppositionellen amerikanischen Republikaner zitierten sie, als sie mehr Budgeteinschnitte forderten. Im Euro-Raum hat die durchschnittliche Verschuldung inzwischen die als kritisch angesehene 90-Prozent-Marke erreicht. Das Papier von Reinhart und Rogoff war somit global ein Argument für die Empfehlung eines strikten Sparkurses.
Dabei sei die Studie falsch und schlampig gerechnet, meinen nun drei Ökonomen von der University of Massachusetts, Thomas Herndon, Michael Ash und Robert Pollin. Sie haben die Daten und die Rechnung von Reinhart und Rogoff geprüft und stellen ihnen ein vernichtendes Zeugnis aus: „Kodierungsfehler“ und ein „selektives Ausklammern von verfügbaren Daten“ - etwa von Australien, Neuseeland und Kanada jeweils in den späten 1940er Jahren, als sie hoch verschuldet waren, aber trotzdem stark wuchsen - sowie einen „unkonventionelle Gewichtung“ hätten zu einem verfälschten Ergebnis geführt. Rechne man richtig, so habe das Wirtschaftswachstum der mit mehr als 90 Prozent verschuldeten Industriestaaten seit 1945 tatsächlich 2,2 Prozent betragen - und nicht wie von Reinhart und Rogoff angegeben minus 0,1 Prozent. Die Wachstumsbilanz der hochverschuldeten Staaten sei damit „nicht dramatisch anders“ als die von geringer verschuldeten Ländern. Es gebe keine historische Grenze, ab der das Wachstum gedrückt sei.
Die am Dienstag in den Vereinigten Staaten bekanntgewordene Kritik hat sogleich eine hitzige Debatte unter Ökonomen, in Blogs und sozialen Netzwerken ausgelöst. Der für seine Kritik an der Sparpolitik bekannte Nobelpreisträger und linksliberale Kolumnist Paul Krugman jubilierte: „Einige von uns haben es nie geglaubt“, dass bei über 90 Prozent Verschuldung „schreckliche Dinge passierten“. Jetzt habe sich herausgestellt, dass die Forschung auf einer „schlechten Rechnung“ beruhe. Falls die Vorwürfe sich bewahrheiteten, sei dies „peinlich und noch schlimmer“ für Reinhart und Rogoff, die Autoren des Wirtschaftsbestsellers „This Time is Different“. Der SPD-Europaabgeordnete Udo Bullmann schrieb auf Twitter mit Bezug auf die Kritik: „Die Staatsschuldenlüge ist nicht mehr haltbar“.
Reinhart und Rogoff reagierten schon am Dienstagabend auf die Vorwürfe. Eine weitere Studie, die den Zeitraum seit 1800 bis heute umfasse, habe ähnliche Ergebnisse gebracht, dass hohe öffentliche Schulden von mehr als 90 Prozent des BIP mit einem um 1,2 Prozentpunkte niedrigeren Wachstum einhergehen. Im übrigen hätten sie stets „sehr sorgfältig“ von einem „Zusammenhang“, aber nicht von einer Kausalität von hohen Schulden und schwachem Wachstum gesprochen. Insgesamt spreche das „Gewicht der Belege“, zu denen auch Studien der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, des IWF und der OECD gehörten, für ihre These. Der Ökonom Tyler Cowen kritisierte die Kritiker: Die hohen neuseeländischen Wachstumsraten nach dem Krieg hätten wenig mit der gegenwärtigen Schuldendebatte zu tun.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen