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Sonntag, 23. Juni 2013

Allerdings scheint es mit der Kontrolle nicht weit her zu sein. Rechtsgrundlage von „Tempora“ ist ein sehr weit gefasstes Gesetz aus dem Jahr 2000. Danach kann der britische Außenminister die Speicherung großer Datenmengen im Alleingang verfügen, sofern es um Kommunikation mit dem Ausland geht. Die privaten Betreiber der Datenkabel und Internetknoten wurden vom GCHQ zur Zusammenarbeit verpflichtet - und zu Stillschweigen.


AbhörprogrammeSchleppnetz und Harpune

 ·  Nach „Prism“ nun „Tempora“: Auch ein britischer Geheimdienst späht das Internet aus - ungehemmter noch als die Amerikaner. Die Deutschen tun es ebenfalls, aber anders.
© GETTY IMAGESGlasfaserkabel am Netzwerkknoten
Anfang dieser Woche bekam David Cameron einen Vorgeschmack auf das, was ihn nun erwartet: peinliche Fragen nach dem, was die britischen Geheimdienste so alles aufzeichnen. Der britische Premierminister musste den Teilnehmern des G-8-Gipfels erklären, was der „Guardian“ gerade enthüllt hatte. Beim vorigen Treffen der größten westlichen Industriestaaten 2009 in London waren mehrere Delegationen abgehört worden. Die Briten hatten Telefone angezapft, Computer überwacht und ein Internetcafé für Gipfelteilnehmer eingerichtet, in dem sie alles mitlesen konnten.
Die aufmerksamen Beamten kamen nicht vom MI6, dem Auftraggeber James Bonds, sondern von einer Spionageeinheit, die kaum jemand kennt: Government Communications Headquarters, das Kommunikationshauptquartier der Regierung, kurz GCHQ. Das wird sich ändern, denn die Behörde steht nun im Fokus neuer Enthüllungen des „Guardian“. Die Zeitung hat Unterlagen ausgewertet, die von Edward Snowden stammen, dem früheren Mitarbeiter des amerikanischen Geheimdienstes NSA, der in Hongkong untergetaucht sein soll und in seiner Heimat per Haftbefehl gesucht wird.
Sie haben es in sich: Die Briten scheinen noch ungehemmter Daten im Internet zu sammeln als die NSA. „Sie sind schlimmer als die Amerikaner“, wird Snowden zitiert. Gemäß dem Bericht hat das GCHQ die großen Internetknoten angezapft, die sich auf der Insel befinden. An diesen Knoten werden mächtige Glasfaserkabelstränge zusammengeführt, die unter dem Atlantik und der Nordsee verlaufen. Über sie wird der größte Teil des Datenverkehrs zwischen Großbritannien und den Vereinigten Staaten sowie dem europäischen Festland abgewickelt.

Weit gefasstes Gesetz

Auch der Datenverkehr zwischen Deutschland und Amerika läuft weitgehend über die Insel. Wer an den Knoten sitzt, kann sämtliche Daten abgreifen, ohne dass die Benutzer je davon erführen: Telefongespräche, Mails, Facebook-Einträge, besuchte Websites. Die Datenmengen sind unvorstellbar groß. Ein Glasfaserkabel transportiert jede Sekunde zehn Gigabyte. Das GCHQ überwacht offenbar 1600 dieser Kabel, im vergangenen Jahr zog sie Daten aus 200 davon. An einem einzigen Tag hat der Geheimdienst somit Zugriff auf 21.600 Terabyte - eine gewöhnliche Festplatte für den Hausgebrauch speichert nur einige Terabyte.
Die erfasste Datenmenge ist 192 mal so groß wie der gesamte Buchbestand der British Library. Gigantische Zwischenspeicher fangen den Datenverkehr wie ein riesiges Netz auf. Inhalte werden drei Tage vorgehalten, Benutzerdaten dreißig Tage. Während der Speicherzeit werden die Datenmengen mit Softwareprogrammen gefiltert. Sie suchen nach Namen, Telefonnummern, E-Mail-Adressen. Es geht darum, ein paar Nadeln im Datenheuhaufen zu finden. Die Auswahlkriterien seien „Sicherheit, Terrorismus, organisiertes Verbrechen und wirtschaftlicher Wohlstand“, zitiert der „Guardian“ eine Geheimdienstquelle.
Sie behauptet, das Programm mit dem Codenamen „Tempora“ werde rechtlich kontrolliert und habe dazu beigetragen, mehrere Terroranschläge auf der Insel zu vereiteln. Allerdings scheint es mit der Kontrolle nicht weit her zu sein. Rechtsgrundlage von „Tempora“ ist ein sehr weit gefasstes Gesetz aus dem Jahr 2000. Danach kann der britische Außenminister die Speicherung großer Datenmengen im Alleingang verfügen, sofern es um Kommunikation mit dem Ausland geht. Die privaten Betreiber der Datenkabel und Internetknoten wurden vom GCHQ zur Zusammenarbeit verpflichtet - und zu Stillschweigen.

BND kannte „Tempora“ nicht

Während die Briten ihre europäischen Partner über ihr Abhörprogramm im Dunkeln ließen, nahmen sie die Amerikaner an Bord. Sie dürfen die Datenmassen nach eigenen Suchbegriffen durchforsten und mit eigenen Mitarbeitern auswerten. Im Mai 2012 arbeiteten 250 Auswerter von der NSA an der Seite von 300 Kollegen des GCHQ. Das erklärt wohl auch, wie der „Whistleblower“ Snowden an Dokumente kam, die nun „Tempora“ enthüllen. Der Bundesnachrichtendienst (BND) kannte, wie schon im Fall Prism, weder das Programm noch den Namen. Was der „Guardian“ berichtet, erscheint dem deutschen Dienst allerdings technisch plausibel. Und dort ist man nicht überrascht davon, dass Briten wie Amerikaner Daten in ganz großem Stil erfassen.
Dem BND ist allerdings daran gelegen, dass seine eigene Arbeit nicht durch die Berichte über die Programme der Amerikaner und Briten diskreditiert wird. Man arbeite ganz anders als die transatlantischen Partnerdienste, heißt es. Wenn Amerikaner oder Briten das große Schleppnetz auswerfen, dann sieht sich der deutsche Dienst als der Schwimmer, der mit einer technisch ausgefeilten Harpune darauf erpicht ist, den großen Fisch zu erlegen. Tatsächlich kann der BND mit seinen insgesamt rund 6500 Mitarbeitern den Abhördiensten der Amerikaner und Briten rein personell nicht das Wasser reichen. Anstatt große Datenmengen abzuspeichern, rastert und verdichtet der deutsche Dienst sie.
Dabei nimmt man in Anspruch, immer effektiver zu arbeiten. Hatte man 2010 noch 37 Millionen Kommunikationen, im wesentlichen E-Mails, gefiltert, so waren es im folgenden Jahr weniger als drei Millionen. Im Jahr 2012 liegt man bei weniger als einer Million Daten, weil die „Selektionsfähigkeit“ aufgrund bestimmter Suchbegriffe und Algorithmen verbessert wurde. Die Zahl der sicherheitsrelevanten Ergebnisse - es sind wenige hundert - ist gleich geblieben. Zwar profitiert auch Deutschland von den Diensten, die das große Schleppnetz haben. Doch riesige Datenmengen bieten noch keine Erfolgsgarantie. Denn sie wollen sinnvoll ausgewertet werden. Die Kapazitäten haben die Amerikaner, deshalb wohl die Arbeitsteilung.

Große Datenmengen schützen nicht immer

Mehrere Anschläge in den Vereinigten Staaten, wie zuletzt jener auf den Boston-Marathon, haben allerdings gezeigt, dass auch eine große Datenmenge nicht immer Schutz bedeutet. Hinzu kommt das Problem, dass etwa in den Vereinigten Staaten die Daten zwischen den 16 verschiedenen Nachrichtendiensten nur unzureichend ausgetauscht werden. In Deutschland wäre ein ähnlicher Ansatz wie bei Briten und Amerikanern politisch nicht durchsetzbar. Der BND weist zudem Berichte zurück, dass er sein eigenes Programm zur Verbesserung strategischer Fernmeldeaufklärung um die Summe von 100 Millionen Euro in den kommenden fünf Jahren ausbauen will.
Genehmigt worden sind vom Vertrauensgremium des Bundestags, das die Gelder für die Nachrichtendienste BND, Bundesamt für Verfassungsschutz und Militärischer Abschirmdienst bewilligt, im laufenden Jahr fünf Millionen Euro. In den kommenden vier Jahren sollen es jährlich weitere vier bis sieben Millionen Euro sein, so dass eine Gesamtsumme unter 30 Millionen Euro erreicht werde. Allerdings ist nach F.A.S.-Informationen die Summe von 100 Millionen im Vertrauensgremium vorgeschlagen worden. 
Die neun Parlamentarier, die darin sitzen, verlangten aber von den Diensten eine genaue Aufstellung, wer was zu welchem Zweck benötige. Da die Dienste diesem Ansinnen nicht oder nur mit erheblicher Verzögerung nachkamen, wurde die gewünschte Summe nicht bewilligt.Ursprünglich hatte der BND eine Aufrüstung der technischen Fähigkeiten aller Dienste angestrebt, deren Gesamtsumme knapp 360 Millionen Euro ausmachte.
Doch solche Vorschläge sind jetzt vom Tisch. Geplant ist eine Verbesserung der Fähigkeiten, Cyberangriffe abzuwehren - der BND kann das als einziger Dienst schon im Ausland tun. Zudem hat der Dienst eine Unterabteilung mit 130 Mitarbeitern beschlossen, in der die Kompetenzen auf dem Gebiet der Internetüberwachung und der Cyberabwehr gebündelt werden. Die Arbeit des deutschen Diensts im Internet wird - je nach politischer Ausrichtung - unterschiedlich bewertet.
„Dass man den Mail-Verkehr auf bestimmte Suchbegriffe untersucht und so eine kleine Zahl hochrelevanter Informationen generiert, ist nicht zu beanstanden“, lobt der CDU-Innenexperte Clemens Binninger die Arbeit des BND, bei dem die Balance - anders als bei Amerikanern und Briten - zwischen Sicherheitsbedürfnissen und Datenschutz gewährleistet sei. In der Linkspartei sieht man das anders. „Es ist eine Tatsache, dass die Bundesregierung mit ihren Geheimdiensten auch an dem Geschäft der Datenerfassung und des Datenaustausches beteiligt ist. 
Es liegt die Vermutung nahe, dass sie andere Regierungen nicht besonders scharf kritisiert, weil sie gleiches oder ähnliches tut“, sagt deren Abgeordneter Steffen Bockhahn. FDP-Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger sprach am Samstag angesichts des Berichts über „Tempora“ von einem „Albtraum à la Hollywood“. Und SPD-Schatteninnenminister Thomas Oppermann bemühte den „Überwachungsstaat von George Orwell“. In der Bundesregierung hieß es, man nehme den Bericht über das britische Abhörprogramm „sehr ernst“.

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