Mollath kommt freiDie juristische Lupe zur Seite gefegt
06.08.2013 · Gustl Mollath, der bislang berühmteste Psychiatriepatient der Republik, erreicht sein Ziel: Das Oberlandesgericht Nürnberg ordnet einen neuen Prozess an. Mollath ist nach sieben Jahren Haft frei.
Von ALBERT SCHÄFFER, MÜNCHEN
Auch gerichtliche Entscheidungen haben ihre Dramaturgie. Nachdem im vergangenen Monat das Landgericht Regensburg die Wiederaufnahme des Falles Gustl Mollath abgelehnt hatte, war zwar mit einer raschen Entscheidung der Beschwerdeinstanz, des Oberlandesgericht Nürnberg, zu rechnen gewesen. Denn die bayerische Justiz musste fürchten, dass ihr das Verfahren durch das Bundesverfassungsgericht, das Mollath angerufen hat, aus der Hand genommen wird. Eine Stellungnahme des Generalbundesanwalts an das Bundesverfassungsgericht erhöhte noch den Druck; der Generalbundesanwalt kam zu der Wertung, es sei bei einer Überprüfung der Unterbringung Mollaths in einer psychiatrischen Klinik nicht hinreichend belegt worden, welche Gefahren von ihm ausgingen.
Es überraschte dann aber doch, dass das Oberlandesgericht Nürnberg nicht einmal zwei Wochen brauchte, um eine neue Hauptverhandlung anzuordnen und zu verfügen, dass Mollath unverzüglich auf freien Fuß zu setzen sei. Die Annahme, der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts habe sich der öffentlichen Kritik, die wie ein Tsunami über die Justiz fegte, gebeugt, greift allerdings zu kurz. Die Nürnberger Richter verfuhren vielmehr nach den Regeln der juristischen Kunst, in dem sie einen der vielen Punkte, die gegen das Urteil des Jahres 2006, das die Unterbringung Mollaths verfügte, sprechen, herausgriffen und für stichhaltig befanden: Ein Attest, in dem Mollaths Ehefrau im Jahre 2002 Verletzungen bescheinigt worden waren, die ihr angeblich ihr Mann zugefügt habe. Damit komme es auf andere Gesichtspunkte nicht mehr an, heißt es in der Beschwerdeentscheidung lapidar.
Das Attest spielte eine wichtige Rolle in dem Verfahren des Jahres 2006. Vorausgegangen war ein Zerwürfnis zwischen den Eheleuten Mollath, bei der mehr und mehr mit juristischen Mitteln gekämpft wurde. Gustl Mollath bezichtigte seine Frau, in Schwarzgeldschiebereien verwickelt zu sein; seine Frau zeigte ihn an, weil er sie im August 2001 geschlagen und misshandelt habe. Sie legte ein Attest einer Ärztin vor, das im Juni 2002 ausgestellt worden war. In der Hauptverhandlung des Jahres 2006 vor dem Landgericht Nürnberg-Fürth wurde das Attest verlesen und im Urteil festgehalten, die in der ärztlichen Bescheinigung genannten Verletzungen stimmten mit den Angaben von Frau Mollath überein. Die Ärztin wurde im Prozess nicht gehört, Erst im Zuge der Wiederaufnahmeanträge wurde bekannt, dass die Unterschrift gar nicht von ihr stammte, sondern von ihrem Sohn, der als Arzt in ihrer Praxis gearbeitet hatte.
Andere Richter werden nun prüfen
Das Landgericht Regensburg, dass über die Wiederaufnahmeanträge der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung zu entscheiden hatte, kam dennoch zu dem Schluss, dass keine „unechte“ Urkunde vorliege. Zu diesem Zweck wurde das Attest mehrfach vergrößert, bis ein „i.V.“ zu erkennen war - ein „in Vertretung“. Das Oberlandesgericht Nürnberg wollte diese Art einer juristischen Mikroskopie nicht mitgehen. Bei Betrachtung des Attests in Originalgröße sei das „i.V.“ nicht zu erkennen, führen sie aus. Und sie lassen auch nicht gelten, dass es im geschäftlichen Verkehr zulässig ist, wenn ein Vertreter mit den Namen des Vertretenen unterschreibt. Bei einem Attest gehe es um „höchstpersönliche Wahrnehmungen“ eines Arztes; hier gebe es keine zulässige Stellvertretung. Da das Attest eine große Bedeutung im ersten Prozess gehabt habe, liege ein Wiederaufnahmegrund vor.
Wer will, kann die Entscheidung des Oberlandesgerichts Nürnberg, sich auf die Prüfung des Attests zu beschränken, als richterliche Klugheit sehen. Die Beschwerderichter mussten sich nicht damit auseinandersetzen, wie es sich mit der Einschätzung im Urteil des Jahres 2006 verhält, Mollath leide unter dem Wahn, „Schwarzgeldkreise“, in die seine Frau verstrickt sei, hätten sich gegen ihn verschworen. Sie mussten sich nicht damit beschäftigen, dass später ein Revisionsbericht der Bank bekannt wurde, die schon 2003 zu dem Ergebnis gekommen war, alle nachprüfbaren Behauptungen Mollaths träfen zu. Sie mussten nicht prüfen, wie es mit der Passagen des Urteils des Jahres 2006 verhält, in denen Mollath Reifenstechereien zugeschrieben wurde, weil die Geschädigten „in irgendeiner Verbindung“ zur Scheidung Mollaths stünden und er als früherer Reifenhändler über entsprechende Fachkenntnisse verfüge.
Mollath, der immer seine Unschuld beteuert und sich als geistig gesund bezeichnet, hat mit dem Beschluss des Oberlandesgericht Nürnberg erreicht, was er wollte - einen neuen Prozess. Einen neuen Prozess, in dem geprüft wird, wie es sich mit den Vorwürfen gegen ihn verhält, aus denen seine Gefährlichkeit hergeleitet wurde, die eine Unterbringung in einer psychiatrischen Klink notwendig mache. Mollath war in den Jahren vor 2006 in einem psychischen Ausnahmezustand - das belegt der Duktus und der Inhalt von Schreiben, die er an eine Vielzahl von Adressaten richtete. Aber beging er Taten, die es rechtfertigen, ihm seine Freiheit zu nehmen? Das wird das Landgericht Regensburg in einem neuen Prozess prüfen müssen - es werden andere Richter als jene sein, die zur Lupe gegriffen habe, um das Urteil des Jahres 2006 zu halten.
Es wird kein einfacher neuer Prozess werden - nicht nur, weil die Vorwürfe, um die es geht, mittlerweile weit zurückliegen. Mit Gustl Mollath verbinden sich längst Hoffnungen, die weit über seine Person hinausgehen. An seinem Fall hat sich eine rechtspolitische Debatte entzündet, ob die rechtlichen Normen für eine Unterbringung von Tätern, die für geistig krank gehalten werden, angemessen sind. Beunruhigend im Fall Mollath ist jedenfalls, wie sehr die Welten der Sanktionen auseinanderklaffen. Hätte Mollath im vergangenen Jahrzehnt einfach gesagt, er habe seine Frau geschlagen und er habe Reifen zerstochen, er sei halt emotional aufgewühlt gewesen im Zuge der Trennung, hätte er mit einer Bewährungsstrafe rechnen können; er wäre keine Minute seiner Freiheit beraubt gewesen. Statt dessen saß er von 2006 bis zu diesem Zeitpunkt gegen seinen Willen in der psychiatrischen Klinik - und vieles spricht dafür, dass sich nichts daran geändert hätte, wenn sein Fall nicht eine übergroße Aufmerksamkeit erfahren hätte.
Die Annahme, dass er bis ans Ende seiner Tage nicht auf freiem Fuß gekommen wäre, ist hypothetisch, aber sehr wahrscheinlich - auch weil Mollath in der psychiatrischen Klinik darauf beharrte, nicht geisteskrank zu sein und sich einer Behandlung verweigerte. Mollath ist bislang der berühmteste Psychiatriepatient der Republik gewesen - seit Dienstag ist er der berühmteste ehemalige Psychiatriepatient der Republik.
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