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Dienstag, 6. August 2013

Delinquenten könnten weniger leicht ausgeschafft werden, und der Zugang für EU-Ausländer zur Schweizer Sozialhilfe würde einfacher.

Internes Papier des Aussendepartements

EWR-Beitritt würde «delikate Fragen» provozieren

Schweiz 
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Ein EWR-Beitritt würde zahlreiche Anpassungen im Schweizer Recht nötig machen: Pressebild aus dem EWR-Jahr 1992.
Ein EWR-Beitritt würde zahlreiche Anpassungen im Schweizer Recht nötig machen: Pressebild aus dem EWR-Jahr 1992. (Bild: Keystone)
Ein EWR-Beitritt brächte zwar mehr Wirtschaftswachstum, doch die Schweiz müsste viele politisch heikle Reformen vornehmen. Zu diesem Schluss kommen die Europa-Diplomaten von Aussenminister Didier Burkhalter.
Markus Häfliger, Bern
Andocken an die EWR-Institutionen? Oder sogar ein EWR-Beitritt? Zwei Jahrzehnte nachdem das Volk Nein gesagt hat zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR), feiert der EWR ein politisches Comeback. Auslöser sind die institutionellen Probleme, die derzeit die Weiterentwicklung der Beziehungen zur EU blockieren. Insbesondere Exponenten der CVP, notabene Parteichef Christophe Darbellay und Nationalrätin Kathy Riklin, haben deshalb die Idee einer Neuauflage eines EWR forciert – oder sie propagieren zumindest das Andocken der Schweiz an den Gerichtshof des EWR, das Efta-Gericht. Support erhalten die CVP-Exponenten von Professoren wie Dieter Freiburghaus oder Thomas Cottier.
Kurz vor den Sommerferien hat der Bundesrat jedoch alle EWR-Optionen verworfen – vorläufig zumindest. Dies trägt ihm nun den Vorwurf ein, «dass in Bern alles, was mit dem EWR zu tun hat, unterdrückt wird», wie Carl Baudenbacher kritisiert (NZZ 23. 7. 13). Baudenbacher ist Präsident des Efta-Gerichtshofes und gehört zu den vehementesten EWR-Befürwortern. Er und andere argumentieren, dass es falsch sei, den EWR heute noch gestützt auf die Debatte von 1992 zu beurteilen.

Marktzugang für Banken

Doch wie beurteilen die Schweizer Europa-Diplomaten den EWR heute? Das zeigen zwei interne Dokumente aus dem Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA). Im ersten Papier listet die Direktion für europäische Angelegenheiten auf neun Seiten auf, welche Folgen ein EWR-Beitritt hätte. Das Papier ist die vermutlich detaillierteste Auslegeordnung der Bundesverwaltung zu den Konsequenzen eines EWR-Beitritts, die seit 1992 publik geworden ist. Zusammengefasst kommt das Papier zum Schluss, dass ein EWR-Beitritt wohl das Wirtschaftswachstum ankurbeln würde – vor allem weil die Schweiz vollen Zugang zum EU-Dienstleistungsmarkt erhalten würde. Der Marktzugang würde «langfristig abgesichert».
Besonders profitieren könnten die Banken: Für sie würde der EWR «das Problem des Zugangs zu den Finanzmärkten der EU lösen». Zudem würde der EWR die Schweiz zu Reformschritten zwingen, die die Wirtschaft zusätzlich stimulieren könnten (vgl. Kasten).
Neben der Aufzählung solcher Vorteile hält das Papier aber fest, dass ein EWR-Beitritt viele «delikate politische Fragen» provozieren würde. Dies gilt notabene bei der Personenfreizügigkeit. Im Vergleich zu den bilateralen Verträgen würden im EWR die Freizügigkeits- und Aufenthaltsrechte für EU- und Efta-Bürger erweitert – und sie «wären nicht mehr so eng an eine Erwerbstätigkeit geknüpft», schreiben die Europa-Diplomaten. So müsste die Schweiz die Unionsbürgerrichtlinie der EU übernehmen. Der Familiennachzug für Drittstaatenangehörige würde erleichtert, Delinquenten könnten weniger leicht ausgeschafft werden, und der Zugang für EU-Ausländer zur Schweizer Sozialhilfe würde einfacher.

Schweizer in der Minderheit

Institutionell wäre die Schweiz an zwei supranationalen EWR-Institutionen beteiligt: an der Efta-Überwachungsbehörde zum einen und dem Efta-Gericht zum andern. Zudem könnte sie bei der Entwicklung neuen EU-Rechts besser mitwirken («decision shaping»). Trotzdem kommen die Europa-Diplomaten zum Schluss, dass es für die Schweiz schwieriger würde, ihre Interessen durchzusetzen. Zwar wäre es theoretisch möglich, bei der Weiterentwicklung des EU-Rechts auszuscheren («opting out») – doch das könnte die Schweiz nicht alleine, sondern nur wenn alle Efta-Staaten einig wären.
Vor allem aber biete der EWR «keine Lösung» für die Streitschlichtung mit der EU, schreiben die Europa-Diplomaten. Ein zweites, undatiertes Papier, das ebenfalls in der Bundesverwaltung kursiert, bringt diesen Aspekt direkter auf den Punkt: «Ein EWR-Beitritt oder ein Andocken an die bestehenden Organe würde keinen Effizienzgewinn in der Streitbeilegung bringen.» Das zweite Papier geht detaillierter auf die Variante eines blossen «Andockens» an die EWR-Institutionen ein. Zwar wird eingeräumt, dass am Efta-Gericht ein Schweizer Richter mitwirken könnte, dieser wäre jedoch immer in der Minderheit. Zudem sei es «zweifelhaft, ob norwegische, isländische oder liechtensteinische Richter die Besonderheiten der sektoriellen Abkommen gebührend berücksichtigen könnten oder wollten».
Zudem halten die Verfasser offenbar nicht besonders viel vom Efta-Gericht. In dem Papier heisst es, das Gericht nutze «den Spielraum für eigene Lösungen nicht voll aus, der ihm gestützt auf das EWR-Abkommen zustände».

Zehn Folgen eines EWR-Beitritts

hä. ⋅ Ein EWR-Beitritt würde weitere bedeutende Reformen und Gesetzesanpassungen bedingen, aber der Schweiz auch Vorteile bringen. Eine Auswahl: Post. Das Monopol der Post für Briefe unter 50 Gramm müsste fallen. Kantonalbanken. Die heute noch geltende Staatsgarantie müsste fallen. Kantonale Gebäudeversicherungen. Ihr Monopol müsste «wahrscheinlich» aufgegeben werden, heisst es im Papier. Energie. Während die Schweiz derzeit wenigstens für eine Beteiligung am EU-Strommarkt kämpft, wäre sie im EWR in den ganzen Energiebinnenmarkt der EU (Strom, Gas, Erneuerbare) integriert. Pensionskassen. Obligatorischer und überobligatorischer Teil müssen getrennt werden. Dies dürfte «eine radikale Senkung des Umwandlungssatzes» nötig machen, heisst es im EDA-Papier. Lex Koller. Das Gesetz, das den Immobilienerwerb durch Personen im Ausland einschränkt, müsste abgeschafft werden. Cassis de Dijon. Produkte, die gemäss Schweizer Vorschriften hergestellt werden, dürfen neu in jedem EU-Land verkauft werden. Heute gilt dies nur umgekehrt, weil die Schweiz das Cassis-de-Dijon-Prinzip einseitig anwendet. Telekommunikation. Die «letzte Meile» müsste ganz liberalisiert werden. Die Roaming-Tarife würden harmonisiert. Tabakprodukte. Die Schweiz müsste bei der Zigarettenproduktion neu die strengeren EU-Regeln anwenden. Patentschutz. Parallelimporte von Arzneien aus der EU würden zugelassen.

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