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Dienstag, 6. August 2013

Die Diskussion über den absoluten Schuldenstand Griechenlands führt in die falsche Richtung, sagt der erfahrene «Staats-Schuldenmanager» Charles Dallara.

Interview mit Charles Dallara

Sparen alleine löst die Krise nicht

Wirtschaftsnachrichten 
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Der griechische Schuldenschnitt war ein prägendes Ereignis
Der griechische Schuldenschnitt war ein prägendes Ereignis (Bild: imago)
Die Diskussion über den absoluten Schuldenstand Griechenlands führt in die falsche Richtung, sagt der erfahrene «Staats-Schuldenmanager» Charles Dallara. Er hat bis vor kurzem bei den Restrukturierungsgesprächen mit der griechischen Regierung die Interessen der privaten Gläubiger vertreten und plädiert im Gespräch für die Einrichtung eines Investitionsfonds zur gezielten Ankurbelung der griechischen Volkswirtschaft.
Christof Leisinger und Gerald Hosp
Der früherer Geschäftsführer des Institute of International Finance kritisiert zudem das Krisenmanagement des IMF, der zu wenig auf den Aufbau von Vertrauen in eine Wirtschaft setze. Dallara äusserte sich auch skeptisch gegenüber einem Insolvenzverfahren für bankrotte Staaten. Ein solcher Prozess würde Investorenrechte beschneiden.
Zypern hat jüngst durch die Blume nach neuen Finanzhilfen gefragt, während Griechenland einen weiteren Schuldenschnitt ins Gespräch gebracht hat. Was halten Sie davon?
Der massive Schuldenschnitt privater Kreditgeber in Griechenland wurde freiwillig und im Rahmen geordneter Verhandlungen auf solider Basis gemacht, obwohl sich dies manchmal schwierig gestaltete. Die einzelnen Elemente der Vereinbarungen wurden ex ante mehrheitlich akzeptiert. Der Bewertungsabschlag führte zu einem Verlust von mehr als 70% Prozent des Gegenwartwertes der Ansprüche von Gläubigern. Etwa 53% aller Forderungen wurden ausgelöscht und der Rest wurde restrukturiert. Insgesamt hat der private Sektor einen massiven Beitrag zur Lösung der griechischen Probleme beigetragen.
Nun fragt sich, ob auch jene Forderungen neu geordnet werden sollten, die sich in den Händen öffentlicher Gläubiger befinden. In meinen Augen aber sollte sich der Fokus der Diskussionen nicht auf die absolute Höhe der Schulden richten, sondern darauf, wie sich Wachstums- und Investitionsmöglichkeiten schaffen lassen. Griechenland zeigt, dass sich die Tragfähigkeit der Verbindlichkeiten nicht dadurch verbessern lässt, indem man alleine den Zähler beim Verhältnis Schulden-zu-Wirtschaftsleistung adressiert und verkleinert. Trotz des hohen Schuldenschnitts hat sich die Verschuldungsquote relativ wenig verändert. Der Grund ist der ununterbrochene wirtschaftliche Abschwung in Griechenland, was eine Vielzahl von Auswirkungen hat, wie zum Beispiel der zu starke Fokus auf die kurzfristige Sparpolitik anstatt diesen auf die strukturelle Reform zu legen. Aus diesem Grund sollte man sich bei Schuldendiskussionen damit beschäftigen, wie sich die griechische Wirtschaft revitalisieren lässt.
Wieso ist die griechische Bevölkerung nicht offen für eine andere Art von Sparkurs und für Reformen? Hat die Regierung sie nicht gut genug verkauft?
Das ist eine komplexe Frage. Tatsächlich ist ein grosser Teil der griechischen Bevölkerung offen für Reformen. Allerdings sind Massnahmen gefragt, die die griechische Wirtschaft wettbewerbsfähig machen. Während der Verkauf von Staatsunternehmen in Ländern wie Mexiko kritisch gesehen wird, weil angeblich das «Tafelsilber» verschachert werde, sind viele Griechen dafür. Sie denken, man müsse die staatlichen Firmen aus der Hand des Staates geben, weil dieser ineffizient und in weiten Teilen sogar korrupt sei.
Die Akzeptanz der Reformen leidet in Griechenland darunter, dass sie so lange dauern und so tiefgreifend sind. Abgesehen von Kriegszeiten hat es kaum ein grösseres Land gegeben, welches über einen Zeitraum von fünf Jahren einen Rückgang der Wirtschaftsleistung um insgesamt 25% hinnehmen musste. So gesehen kann man kaum erwarten, dass die griechische Bevölkerung jeden Reformschritt ohne Murren hinnimmt. Schliesslich kann sie selbst heute kaum ein Licht am Ende des Tunnels ausmachen. Das vergangene Jahr war etwas unglücklich. Denn der Schuldenschnitt, der mehr als 70% des Wertes eliminierte und der Verbindlichkeiten vernichtete, die der Hälfte des damaligen Bruttoinlandproduktes Griechenlands entsprachen, fand im Rahmen eines Programmes statt, das von einer volkswirtschaftlichen Kontraktion von 4,5% jährlich ausging. Wenn Europa bereit wäre, mit einem Investitionsfonds zusammen mit einer substanziellen Beteiligung des Internationalen Währungsfonds (IMF) weitere 15 bis 20 Mrd. € einzusetzen, hätte die griechische Wirtschaft heute eine Chance, sich zu stabilisieren.
Charles Dallara empfiehlt Umschuldungsklauseln, sogenannte Collective Action Clauses (CAC).
Charles Dallara empfiehlt Umschuldungsklauseln, sogenannte Collective Action Clauses (CAC).(Reuters/Edgard Garrido)
Griechenland ist bis zu einem bestimmten Grad dazu bereit, sich zu ändern. Die Arbeitslosigkeit ist allerdings sehr hoch und führt sowohl zu sozialen als auch zu politischen Spannungen, die sowohl das normale Leben in Griechenland selbst als auch in Europa verkomplizieren könnten.
Sie denken, die europäischen Staaten sollten die griechische Wirtschaft stimulieren?
Es sollte eine Reihe von zweckdienlichen Massnahmen getroffen werden. Ein weiterer Schuldenschnitt könnte dazu zählen. Ich würde ihn allerdings nicht priorisieren, sondern fiskalische Hilfestellungen vorziehen. Etwa in Form eines Investitionsfonds für Südeuropa mit einem Volumen von etwa 50 Mrd. €, der seine Mittel in angemessen kurzer Zeit einsetzen könnte. Es gibt viele Projekte in Griechenland, etwa Infrastrukturmassnahmen wie den Strassenbau oder die Modernisierung von Häfen, die auf diese Weise beschleunigt werden könnten. Sie würden einerseits für Wachstum und Arbeitsplätze sorgen und könnten andererseits von privaten Firmen unterstützt werden. Beispielsweise von Private-Equity-Unternehmen wie dem unseren. Die vom Investitionsfonds eingesetzten Mittel wären nicht verloren, sondern sie würden sich im Laufe der Zeit bezahlt machen. Dieser Fonds könnte ergänzt werden mit einem Pendant zur Arbeitsmarktförderung. Die dort verwendeten Gelder wären zwar verloren, die Arbeitslosen können jedoch nicht dauerhaft vom Staat alimentiert werden.
Solche Initiativen sollten zusammen gehen mit intensivierten Deregulierungsmassnahmen, verbesserter Transparenz, der Reform des Steuerwesens und der Privatisierung von Staatsunternehmen in den südeuropäischen Staaten. Derartige Veränderungen sind bisher nicht mit angemessenem Nachdruck verfolgt worden. Die griechische Regierung bemüht sich zwar, öffentliche Unternehmen zu verkaufen. Ihre Erfolge sind allerdings bisher durchwachsen. Trotzdem ist sie entschlossen, hartnäckig zu bleiben, wie mir der Ministerpräsident des Landes jüngst bestätigte.
Die griechische Wirtschaft wird in bestimmten Bereichen weiterhin von den Eigeninteressen bestimmter Gruppen beeinflusst. Das ist zwar nicht anders, als in anderen Ländern - Griechenland jedoch kann sich so etwas nicht mehr leisten. Es ist politische Führungskraft nötig, um dagegen vorzugehen. Denn das politische System des Landes war in der Vergangenheit ein Teil des Problems. Es zeichnete sich durch Klientelismus auf verschiedenen Ebenen aus, der nicht anders, sondern nur ausgeprägter war als in anderen Ländern.
Haben Sie den Eindruck, in Griechenland denkt man «neu» und bewegt sich?
Ja, ich denke schon. Immerhin ist die jetzige Regierung schon gut ein Jahr im Amt. Das ist angesichts der Umstände eine relativ lange Zeit. Erstaunlich ist auch der ökonomische Sachverstand der griechischen Bevölkerung, da sie – im Gegensatz zu entsprechenden Meinungsäusserungen in Nordeuropa – nie wirklich daran interessiert war, den Euro aufzugeben. Die Griechen scheinen langfristig orientiert zu sein. Angesichts der Lasten des Spar- und Restrukturierungsprogramms wäre nichts naheliegender gewesen, als den Euro aufzugeben. Auch ich persönlich denke, es wäre ein Fehler, die europäische Einheitswährung einfach so aufzugeben, nachdem man sie ein Jahrzehnt lang hatte. Der Austritt könnte in einer Katastrophe enden.
Abgesehen von politischer Stabilität scheint die Regierung recht effizient zu arbeiten. Grundsätzlich setzt sich bei den etablierten Parteien immer mehr die Erkenntnis durch, in der Vergangenheit eine Entwicklung zugelassen zu haben, die zu Ineffizienzen und zu Klientelismus geführt hat. Die Einführung des Euro hat diese nur noch verstärkt. Es war ein struktureller Fehler, eine Währungsunion ohne simultane Fiskalunion anzustreben, und ohne darüber nachzudenken, wie man eine politische Union erreichen könnte.
Die Währungsunion liess sich wohl politisch einfacher erreichen.
Sicher, aber heute zahlen wir alle den Preis für den Mangel an institutionalisierter Konsolidierung. Europa hat Griechenland praktisch den Rahmen gegeben, in welchem das Land Ausgaben tätigen konnte, die weit über seinen Möglichkeiten lagen.
Es war ja nicht Europa an sich, das Griechenland die Kredite gab, sondern es waren die Banken und institutionelle Anleger wie Versicherungen, Pensionsfonds oder Hedge-Funds. Haben diese die Lage nicht völlig falsch eingeschätzt?
Unbestritten. Viele Investoren, deren Interessen wir vom IIF aus vertreten haben, schienen in der Vergangenheit nicht verstanden zu haben, dass die Euro-Zone als «Dachgesellschaft» keinen vollständigen Schutz vor finanziellen Überraschungen in den Mitgliedsländern bieten würde. Das ist vergleichbar mit einem preisgünstigen Regenschirm - bei normalem Regen erfüllt er seinen Zweck, in einem regnerischen Sturm jedoch bricht er und fliegt davon. Einzelne Staaten wie Deutschland hatten immer erklärt, sie übernähmen keine Garantie für das Finanz-Gebaren anderer Länder. Die Märkte ignorierten das jedoch die längste Zeit und hatten damit auch bis zu einem gewissen Masse Recht. Denn letztlich mussten die finanziell starken Länder doch intervenieren und die Lage in Europa beruhigen. Insgesamt bot Europa den Rahmen für die Entwicklung, südeuropäische Staaten wie Griechenland profitierten vorübergehend davon und die Anleger erleichterten den Prozess durch teilweise unbedachte Investitionen, die auf Renditen ausgerichtet waren, ohne das unterliegende Risiko gebührend in Betracht zu ziehen.
Waren die Verluste, die die Gläubiger hinnehmen mussten, gross genug? Normalerweise trägt der, der ein Risiko eingeht, um hohe Renditen zu erzielen, bei einem Fehlschlag die damit verbundenen Lasten komplett …
Man kann sich zwar auf diesen Standpunkt stellen, allerdings ist er moralisierend und nicht sonderlich pragmatisch. Man kann die privaten Gläubiger noch so stark belasten, so werden damit weder die Struktur- noch die Schuldenprobleme gelöst. Selbst wenn man auch die Ansprüche der öffentlichen Gläubiger beseitigte, würde das nur zu einer temporären Entlastung der verschuldeten Staaten führen. Die privaten Geldgeber haben im Rahmen des griechischen Schuldenschnitts einen fairen Anteil an den Lasten und grosse Verluste übernommen. Das wird sich auszahlen, aber nur, wenn sich in Griechenland die notwendigen Reformen durchsetzen lassen. Die Entschlossenheit der Regierung des Landes dazu zeigte sich zuletzt an der Schliessung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks.
War das nicht eher ein Zeichen für Panik?
Nein, das war längerfristig geplant. Manchmal ist es nötig, harte Entscheidungen zu fällen. Grundsätzlich sollte man die Lage in Griechenland strategischer als bisher betrachten. Die mehrfachen Sparrunden, welche unter der Führung des IMF von der Troika aufgesetzt wurden, zahlten sich nicht in der gewünschten Form aus. Schon im Frühjahr 2011 war offensichtlich, dass das so nicht funktionieren würde.
War es richtig, dass der IMF kürzlich seine Fehleinschätzung zugab?
Es war gut, dass der IMF noch einmal über die Bücher gegangen ist. Schliesslich wären schon früher aggressivere Strukturreformen nötig und möglich gewesen, als sie dann stattfanden. Der IMF-Bericht ging ausserdem an der fundamentalen Realität vorbei, weil er den Eindruck erweckte, der Privatsektor habe keinen wesentlichen Beitrag zur Reform der griechischen Wirtschaft geleistet. Dabei hat dieser auf Ansprüche und Vermögenswerte von 100 Mrd. $ verzichtet, die zuvor noch in seinen Büchern gestanden hatten - reale Vermögen, die verschwunden sind.
Ich widerspreche der weit verbreiteten Wahrnehmung, es habe keine Alternative zu den Sparrunden gegeben. Allerdings hätte der IMF kooperativer und transparenter sein müssen und Europa hätte mehr finanzielle Mittel zur Verfügung stellen müssen.
Die griechische Wirtschaft geriet zudem nicht nur wegen fehlender Mittel in die Abwärtsspirale, sondern auch wegen der permanenten Skepsis, die von europäischen Regierungsbeamten und Mitarbeitern des IMF ausging. Mit jeder Spekulation über den Ausstieg Griechenlands aus dem Euro gingen das Vertrauen und damit die Investitionen zurück. Europa scheint nicht erkannt zu haben, dass sich ein Land durch solche Hypothesen nicht retten lässt.
Wurden die Gespräche über Griechenland durch die komplizierten Strukturen der europäischen Institutionen belastet?
Mit Sicherheit. Erstens aufgrund der Asymmetrie zwischen monetärer und fiskalischer Union. Zweitens ist der bürokratische Apparat, der in Europa zu den Entscheidungen führt, beinahe dysfunktional. Ich habe noch nie einen Schuldenrestrukturierungsprozess erlebt, in welchem bei jedem einzelnen Schritt Konsens auf verschiedenen Verwaltungsebenen aller 17 EU-Mitgliedsstaaten hergestellt werden musste. Das ist sehr ineffektiv und im Kern mit den volkswirtschaftlichen Ineffizienzen in Griechenland selbst vergleichbar.
Das Verfahren ist zu kompliziert für Angelegenheiten, die technisch so komplex sind. Manche Probleme wurden auf die höchste Entscheidungsebene gehoben, obwohl sie auf technischer Ebene hätten gelöst werden müssen. Der Grund mag im fehlenden Rahmen innerhalb Europas liegen. Das Problem zeigt sich exemplarisch daran, dass jede Zahlung an Griechenland vom deutschen Parlament abgesegnet werden musste. Ich habe zwar Verständnis dafür, da es die deutsche Verfassung so vorschreibt. Allerdings sollte man darüber nachdenken, ob das eine tragfähige Lösung ist. Wenn die Lösung der Lateinamerika- oder Asienkrisen so kompliziert gewesen wäre, wäre sie sehr wahrscheinlich gescheitert. Dann wären amerikanische, europäische und japanische Banken in die Bredouille geraten.
Grundsätzlich stellt sich in Europa die Führungsfrage – wenn auch im Rahmen einer gewissen Gewaltenteilung. Wir sind meiner Meinung nach an einem Punkt angelangt, an welchem Europa stärker von Deutschland geführt werden muss. Ich sehe kaum eine Alternative, vor allem wenn sie im Rahmen einer europäischen Zukunftsvision und in Verbindung mit einer fiskalischen Konsolidierung Europas umgesetzt werden könnte. Diese würde Deutschland zumindest das Gefühl geben, die Entwicklung kontrollieren zu können.
Viele verknüpfen Führung mit der Verpflichtung zu zahlen…
Aus diesem Grund ist eine gewisse fiskalpolitische Konsolidierung Europas notwendig. Ich denke dass es nötig ist, Vertrauen in die Fiskalpolitikdisziplin in der Eurozone aufzubauen. Wichtig ist allerdings, dass sich Europa bewegt, einen gewissen Sinn von Solidarität an den Tag legt und gewillt ist, das 21. Jahrhundert positiv zu gestalten.
Wie könnte das institutionell aussehen, eine engere fiskalische Zusammenarbeit hat bisher nicht funktioniert?
Es hat nicht funktioniert, weil die europäischen Länder keine Kompetenzen über die Ausgaben an eine Zentrale übertragen wollten. Ich glaube, dass dies der Lackmustest ist. Wenn die Länder auf fiskalische Unabhängigkeit beharren, ist es unwahrscheinlich, dass es klappt. Wir haben gesehen, dass der Disziplinierungsmechanismus im Maastricht-Vertrag nicht sehr effektiv war. Es gibt Möglichkeiten, diesen zu stärken. Es führt aber wohl kein Weg an einer stärkeren fiskalischen Zusammenarbeit mit einer grösseren zentralisierten Kontrolle über die Geldbeutel der Einzelstaaten vorbei. Dies benötigt ein Nachdenken über die Souveränität der Staaten. Das ist für mich die Schlüsselfrage. Auch ein mittelfristiger Plan, wie die Aussichten auf eine stärkere politische Zusammenarbeit aussehen soll, würde helfen. Die Bankenunion ist ein Schritt in diese Richtung. Aber es scheint, dass Europa nicht erkennt, wie wichtig ein Fahrplan für die Marktteilnehmer ist. Diese wollen nicht die nächtlichen 12-Stunden-Treffen, an denen ich oft teilgenommen habe. Es gibt zwar Fortschritte an solchen Treffen. Das Muster ist aber eindeutig: Man kommt voran, es gibt Vereinbarungen, dann kommt es auf einer anderen Ebene zur Klärung von Details und man streitet sich dann wieder über dieselben Dinge. Vor rund einem Jahr an einem Freitag kam die Entscheidung zustande, eine Bankenunion einzuführen. Es sollte der Zusammenhang zwischen Staats- und Bankschulden aufgebrochen werden. Man hat dann rund ein Jahr lang diskutiert, was das bedeutet. Ich gratuliere zum Fortschritt. Der Prozess ist aber langsam und schmerzvoll, die Kosten für Europa in Form von hoher Arbeitslosigkeit und sozialem Leid sind hoch.
Sie erwarten nicht, dass es ein Auseinanderbrechen der Euro-Zone geben wird? In Deutschland ist eine Partei entstanden, die dem Euro kritisch gegenüber steht…
Ich höre diese Stimmen. Ich würde sagen, es besteht kein Nullrisiko, es ist aber nicht sehr wahrscheinlich. Das grössere Risiko ist der Zulauf zu extremen Parteien und soziale Unruhen. Dies könnte das Leben für alle verkomplizieren. Ein nicht so aggressiver Ansatz könnte dazu beitragen, die Situation zu stabilisieren und das Vertrauen in die Wirtschaft zu stärken. Das Potenzial für soziale Unruhen in Südeuropa in den kommenden Monaten ist vorhanden. Auch die Zugewinne für Parteien am rechten und linken Rand sind nicht unwahrscheinlich. Solche Parteien profitieren von diesen Umständen politischer Uneinigkeit. Ich glaube, es ist für Südeuropa entscheidend, dass sich die Wirtschaft in der zweiten Jahreshälfte stabilisiert und mehr investiert wird. Private Unternehmen sind bereit, dabei eine Rolle zu übernehmen.
Wie sollten die Bedingungen aussehen, damit mehr in Griechenland, Zypern, Portugal oder Spanien investiert wird?
Um einen breiten Zufluss an Investitionen anzuziehen, bedarf es zunächst eines grösseren Vertrauens darin, dass die Euro-Zone intakt bleibt. Ausserdem sollte ein europaweiter Privatisierungseffort gestartet werden. Nicht nur die geschwächten Länder, auch Frankreich sowie andere stärkere Länder könnten davon profitieren. Ausserdem sollten die Steuerverwaltungen und die Steuermoral in vielen Ländern verstärkt werden. Die Umsetzung der Steuervorschriften ist ein grosses Problem, die Steuerverwaltungen werden oft von lokalen Politikern behindert. Zu guter Letzt sollte Europa über einen Investitionsfonds für Südeuropa nachdenken - auch um private Investitionen anzuregen.
Es benötigt aber eine Deregulierung, die es erlauben soll, dass die Wettbewerbskräfte entfesselt werden. In vielen Ländern, nicht nur in Griechenland, wird die Wirtschaft von Interessengruppen und Partikularinteressen beeinflusst. Diese sehen grosse Reformen, die protektionistische Massnahmen abschaffen würden, als Gefahr. Auch das Bankensystem sollte gestärkt werden. Nicht nur durch Rekapitalisierungen und einer Stärkung der Liquidität, sondern auch durch mehr Augenmass bei den Regulierungen. Der Prozess der Bilanzverkürzung der Banken, der vielen Unternehmen es erschwert hat, Kredite zu erhalten, würde dadurch zu einem Ende kommen. Die Kreditklemme ist weiterhin ein Problem - sicherlich in Spanien und in Portugal, aber auch in Frankreich. Und auch die Reform des Arbeitsmarktes ist ein wichtiger Bestandteil eines Programmes zur Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit.
Wie würden Sie die Situation der europäischen Banken beschreiben? Der Eindruck ist, dass es zu viele gibt, und viele davon sind zu schwach.
Dies ist eine interessante Beobachtung. Ich würde sagen, es gibt noch Platz für eine weitere Konsolidierung. In Zeiten der Diskussion um eine Bankenunion sollte es klar sein, dass Fusionen und Übernahmen über die Grenzen hinweg möglich sind. Manche Staaten pflegen aber immer noch ihre nationalen Champions. Dies ist nicht immer im Interesse eines effizienten und kostenbewussten Bankwesens. Ich glaube, europäische Banken wurden insgesamt gestärkt. Es wurden grosse Schritte unternommen, um die Kosten zu senken, die Schulden abzubauen und die Eigenkapitalbasis zu stärken. Aber leider haben manche Massnahmen der Wettbewerbskommission in Brüssel ohne Absicht starke globale Gebilde unterminiert. Dies endete damit, dass Finanzinstitute Staatsgelder bekamen. Den Banken wurde auch gesagt, sie sollen zum Kerngeschäft zurückzukehren. Dies muss nicht immer der effektivste Weg sein. Es würde helfen, wenn die Aufsichtsbehörden global zusammenarbeiten und globale Lösungen definieren würden. Was ich in den vergangenen sechs Monaten gesehen habe, ist ein ständiger Rückzug von globaler Koordination zugunsten von Nationalisierung und Regionalisierung von Bankenreformen. Die USA und Europa sind dafür Beispiele. Es ist nicht so, dass man sich in Washington und in Brüssel nicht um gute Lösungen bemühen würde. Das Problem ist aber, dass das Interesse an einer globalen Lösung verloren geht. Rein nationale Regeln werden aber nicht funktionieren.
Hat die Finanzbranche nicht Interesse an nationalen Regeln, weil diese einfacher beeinflusst werden können?
Kurzfristig vielleicht, aber langfristig nicht. Unternehmen sind auf konsistente Rahmenbedingungen angewiesen. Wenn es sich um eine rein nationale Bank handelt, dann wird vielleicht eine nationale Lösung bevorzugt. Die meisten Banken - die Banken, die ich beim IIF vertreten habe - brauchen eine globale Lösung. Unterschiedliche Regeln in verschiedenen Rechtsgebieten erhöhen die Ineffizienzen. Wenn sie das Kapital innerhalb einer Bankengruppe nicht verschieben können, behindert dies die Möglichkeiten, auf Engpässe zu antworten. So waren beispielsweise Banken in Westeuropa mit Operationen in Mittel- und Osteuropa von lokalen Regulatoren gehindert worden, das Kapital dorthin zu bringen, wo es benötigt wurde.. Und heute ist das nationale Ring-Fencing schlimmer als früher. Dadurch werden die Banken nicht stabilisiert. Stellen Sie Sich vor, es brennt in der Nachbarschaft. Ein anderer Nachbar hat Wasser, dieser sagt jedoch, dass das Wasser nicht verwendet werden darf, weil er selbst Angst vor Feuer hat. Dann wird jeder sicherstellen, dass ein Hydrant vor dem Haus steht. Das machen derzeit Regulatoren. Sie versuchen, die Kapazität der Finanzinstitute einzuschränken, Kapital und Liquidität zu verschieben. Es ist nicht deren Absicht, es ist aber die Wirkung, dass Kapital und Liquidität in ineffizienter Weise verteilt sind.
Ich glaube, wir stehen vor der Gefahr, die Finanzwirtschaft und damit auch die globale Wirtschaft zu fragmentarisieren. Es scheint, dass wir aus den Augen verloren haben, dass Globalisierung –wie auch immer diese zu beurteilen ist – den Lebensstandard vieler Leute erhöht hat. Wenn wir immer noch in den Grenzen von früher wohnen würden, wären die Pro-Kopf-Einkommen 20 bis 30% geringer als heute. Und was sehen wir heute? Grosse Länder, die ihre eigene Lösung suchen. Das stimmt nicht ganz. Es gibt den Basler Ausschuss für Bankenaufsicht, das Financial Stability Board. Diese Vorgehensweise wird aber derzeit marginalisiert von hoch politisierten Anstrengungen. Beim Lösen der Probleme sollte es nicht nur um die Bestrafung von Regelverstössen gehen. Viele Banker haben grosse Fehler gemacht und sollten dafür zur Verantwortung gezogen werden. Lösungen bestehen aber nicht darin, einfach Banker zu bestrafen, sondern darin einen Ansatz zu finden, der dem Finanzsystem grössere Stabilität gibt.
Sind die G-20 in einer Sackgasse?
Ich würde es nicht Sackgasse nennen. Die G-20 haben aber einen Teil ihrer Effektivität seit dem Frühling 2009 verloren. Nicht wegen der G-20 per se, sondern wegen eines Mangels an Verbindlichkeit von wichtigen Regierungen. Die USA, die wichtigen europäischen Länder und Japan sollten bereit sein, ihre Massnahmen vermehrt globaler Koordination zu unterziehen. Man kann sonst nicht erwarten, dass dies auch China, Brasilien oder die Türkei machen. Es ist dieser schon erwähnte Trend zur Nationalisierung. In einer Krise befriedigt eine nationale Lösung möglicherweise politisch am meisten, eine solche ist aber ökonomisch nicht immer sinnvoll. Es sollten die G-5 und G-7 reformiert werden und diese so umgestaltet werden, dass die aufstrebenden Länder zum inneren Kreis gehören. Es sollte auch eine neue Form von Verantwortlichkeit und Struktur in die G-20 gebracht werden. Unternehmen werden von Märkten zur Verantwortung gezogen. Länder teilweise auch, aber meistens mit einer Verzögerung. Wenn Staatsschulden nur von Märkten in Zaum gehalten werden, enden wir in einer Welt mit hoher Volatilität und ökonomischem Wertaufbau, der von Wertzerstörung gefolgt wird. Um diesem Zyklus zu entkommen, sollten die grossen Länder klare Spielregeln definieren. Wenn der IMF und die OECD zum Beispiel glauben, dass die Fiskalpolitik der USA nicht kompatibel ist mit globalem nachhaltigem Wachstum, dann sollte Washington dafür zur Verantwortung gezogen werden. Es gibt Mittel dazu, Zuckerbrot und Peitsche. Eine kleine Möglichkeit ist, Ländern Zinsen auf ihre Reserven im IMF vorzuenthalten. Es ist ein bisschen das, was mit dem Maastricht-Vertrag erreicht werden sollte. Dieser wurde jedoch nicht richtig durchgesetzt. Es ist kein perfektes System, die G-20 sollten sich aber ein Modell mit positiven und negativen Anreizen überlegen, das auch auf die grossen Länder angewendet wird. Es ist aber schwierig, grosse Länder dazu zu bringen, sich einem solchen System zu unterwerfen.
Der IMF hat vor kurzem einen Bericht veröffentlicht, in dem die Lehren aus den Verhandlungen über die Restrukturierung von Staatschulden gezogen werden: Die Prognosen zur Tragfähigkeit der Schulden seien oft zu optimistisch, die Schuldenrestrukturierung passiere häufig zu spät, und das IMF-Geld helfe manchmal nur privaten Gläubigern. Was sind Ihre Lehren?
Der IIF hat auch einen Bericht erstellt. Es ist kein umfassendes Papier, wir haben aber die Punkte zusammengestellt, bei denen wir dachten, dass diese besser gemacht werden könnten. Am Bericht arbeiteten Vertreter aus dem privaten und öffentlichen Sektor zusammen. Die EU Kommission hat bei der Verfassung des Berichts teilgenommen, der IMF war ein Beobachter im Prozess. Sie nahmen informell aber aktiv an diesen Anstrengungen teil. Meine persönliche Meinung ist eng damit verbunden: Wir hatten ein Rahmenwerk für Staatsbankrotte genannt: Prinzipien für nachhaltige Kapitalflüsse. Es wurde von privater und offizieller Stelle in den Jahren 2003/2004 entwickelt und von den G-20 gutgeheissen. Der IMF nimmt diese Prinzipien scheinbar nicht immer an, sie werden aber weiterhin sowohl vom öffentlichen wie auch vom privaten Sektor unterstützt. Obwohl diese Prinzipien sehr hilfreich waren in den Verhandlungen mit Griechenland. Es ist sehr einfach: Es geht um Transparenz, Verhandlungen in gutem Glauben. Diese Richtlinien wurden zusammen mit den Schuldnern eingeführt, damals mit den Brasilianern, den Indern, den Türken, den Mexikanern. Die Schuldner und Gläubiger haben sich bei den Richtlinien getroffen. Normalerweise stuft man die Schuldner als die andere Seite ein.
Aber damals wie heute gab es erhebliche Bedenken gegen einen von der IMF angeführten Restrukturierungsprozess. Es ist einfach zu sagen, die Schuldenverhandlungen sollten früher beginnen. Zum Beispiel in Griechenland: Ich glaube nicht, dass Athen, die europäischen Politiker, die privaten Gläubiger oder der IMF früher bereit waren zu verhandeln. Ich war dabei, ich war in der Mitte des Prozesses. Was wir gelernt haben ist, dass wir uns früher als Gläubiger in einer formalen Struktur organisieren hätten sollen. Was ich auch gelernt habe, ist dass sich jeder verpflichten sollte, transparente und freiwillige Verhandlungen zu führen. Die letzten 15 Jahre waren vor allem durch den unilateralen Ansatz für einen Schuldenabbau charakterisiert. Argentinien ist der prominenteste Fall, der nicht funktioniert hat. Es gab aber auch andere Fälle, bei denen der Schuldner beim IMF vorsondierte und den privaten Gläubigern sagte: hier ist der Deal. Wir haben darauf bestanden, dass es mit Griechenland einen anderen Ansatz gibt. Es sind unsere Verbindlichkeiten, und wenn wir viel verlieren, möchten wir die Möglichkeit haben, alle Dimensionen einer Einigung zu verhandeln. Es erhöht auch die Aussicht, dass Gläubiger zurückkommen. Griechenland braucht neues privates Kapital. Die Schuldentragfähigkeit ist kein abstraktes Konzept, es ist der Aufbau von Vertrauen in eine Wirtschaft. Es geht aber nicht nur darum, Schulden zu kürzen. Wenn man nur darüber spricht, werden dann Investoren tatsächlich kommen? Ich glaube nicht. Die Märkte bleiben eher skeptisch gegenüber den vom IMF angeführten Schuldenrestrukturierungen. Investitionen werden nicht dadurch angezogen, indem Investorenrechte in Frage gestellt werden. Investoren müssen aber auch realistisch sein, vor allem bei Staatsschulden. Manchmal bekommt man nicht alles zurück. Der IMF könnte aber mehr diese Investorensicht einnehmen.
Sie unterstützen also nicht einen strukturierten Prozess zur Abwicklung von Staatsbankrotten?
Nein, aus den Gründen, die ich oben genannt habe. Denn solche Prozesse, die vor allem vom IMF vorgeschlagen werden, sind teilweise eine Beschneidung von Investorenrechten. Möchten wir wirklich, dass Richter in den Prozess einsteigen? Oder möchten wir eigenständige gemeinsame Lösungen finden? Aus langfristiger Sicht ist der zweite Weg besser. Der rechtliche Rahmen für Staatsanleihen ist sehr verschieden von demjenigen für Unternehmensanleihen. Während der Griechenland-Verhandlungen gab es Phasen, in denen der IMF mit einem unilateralen Ansatz liebäugelte. Dabei wurde die griechische Wirtschaft geschwächt. Ein Insolvenzregime funktioniert in der Unternehmenswelt, aber nicht bei Staatsschulden.
Es gab vor einiger Zeit den Vorschlag eines deutschen Think-Tanks: Ab einer Verschuldung von 90% des BIP soll ein Schuldenschnitt von 10% automatisch erfolgen. Was halten Sie von solchen mechanistischen Ansätzen?
Ich kenne den Vorschlag nicht, aber es klingt wie ein schneller Weg, eine Volkswirtschaft auf Grund laufen zu lassen. Ein Grundproblem mit solchen Vorschlägen ist, dass es unmöglich ist, die Schuldentragfähigkeit auf eine einfache Kennzahl zu reduzieren. Dies hat sich in den griechischen Verhandlungen gezeigt. Es sind zu viele komplexe Faktoren enthalten wie Investitionsklima, die Laufzeiten der Schulden, wie viele Schulden werden im Land, wie viele im Ausland gehalten, wie sind die wirtschaftlichen Aussichten. Solche willkürlichen Regeln sind vielleicht nützlich als Warnsignale, sie sind aber kein Rahmen für einen ernsthaften Mechanismus. Die Politik des IMF basiert eigentlich nicht auf dem Konzept der Schuldentragfähigkeit, sondern auf einer tragfähigen Zahlungsbilanz, was ein viel breiterer Ansatz ist. Warum der IMF dies selber nicht berücksichtigt? Ich habe keine Antwort darauf. Es geht aber tatsächlich um eine tragfähige Zahlungsbilanz. Schulden sind nur ein Aspekt eines breiteren Herangehens. Es ist für jede Wirtschaft schwierig selbst eine moderate Schuldenlast zu tragen, wenn es kein Wachstum gibt. Jede Schuldenhöhe kann belastend sein. Zudem war das Timing für Griechenland schlecht: Wenn dies nicht 2009, sondern 2005 passiert wäre, hätte es wohl nicht diese Auswirkungen gehabt, weil die wirtschaftlichen Umstände andere waren. Aber: Märkte handeln manchmal wie hyperaktive Menschen, die keinen Schlaf finden, und manchmal herrscht Stillstand vor. Man weiss nur nicht, welche Phase gerade herrscht.

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